Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigung für verzögerte Pilotverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird aus einer Vielzahl gleichgelagerter Verfahren eines zum Pilotverfahren bestimmt, das es ermöglichen soll, über die gesamte "Fallbreite" zu entscheiden und so die dort gewonnenen Erkenntnisse auch für die anderen Parallelverfahren fruchtbar zu machen, so kann dieses Pilotverfahren in seiner Bedeutung im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht losgelöst von seiner richtungsweisenden Ausstrahlungswirkung für die weiteren Parallelverfahren betrachtet werden. Der Charakter als Pilotverfahren stellt einen den Gesichtspunkt der Bedeutung des Verfahrens verstärkenden Aspekt dar, der in die nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG gebotene Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls einzustellen ist.

2. Das Ausgangsgericht ist gehalten, ein Pilotverfahren mit höchster Priorität möglichst akkurat und lückenlos zu fördern.

3. Im Falle der Verzögerung eines Pilotverfahrens, das aus einem Komplex mit einer Vielzahl gleichgelagerter gegen den Betroffenen gerichteter Verfahren stammt, ist gemäß der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG durch das Erleiden der festgestellten Verfahrensverzögerung bereits ein immaterieller Nachteil auf Seiten des Klägers des Entschädigungsverfahrens entstanden, ohne dass dieser überhaupt substantiiert auf negative Folgen eingehen müsste. Denn in dieser Konstellation kann nicht davon gesprochen werden, dass es auf seine Vermögenslage ohne spürbare Auswirkungen bleiben werde, ob er in dem Pilotverfahren obsiegen oder unterliegen werde (Abgrenzung zu BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - III ZR 141/14 -, BGHZ 204, 184-198, Rn. 43, juris).

4. Das Pilotverfahren, das auf die Erfordernisse der Bewältigung von Massenverfahren reagiert, hat bereits wegen seiner Ausstrahlungswirkung "an sich" auf eine Vielzahl von abhängigen Verfahren eine herausragende Bedeutung für den Kläger des Entschädigungsverfahrens, die es als atypischen Sonderfall ausweist. Dies stellt eine entschädigungsrelevante Besonderheit dar, die gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG zu einer Erhöhung der Regelentschädigung aus Billigkeitsgründen führen kann.

5. Neben der drohenden wirtschaftlichen Belastung durch die geltend gemachten Ansprüche ist auch die Anzahl der abhängigen Verfahren gegen den personen-identischen Kläger als Kriterium für die Erhöhung der Regelentschädigung gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG heranzuziehen. Bezugspunkt für die Mehrbelastung ist dabei nicht der konkrete Streitgegenstand des zum Zwecke der Beweisaufnahme hinzuverbundenen Verfahrens, sondern vielmehr die Bedeutung des Pilotverfahrens, die sich in der Anzahl der von ihm abhängigen Verfahren materialisiert.

6. Die Belastung des Betroffenen durch die "Klageflut" nimmt mit weiteren gegen ihn gerichteten gleichgelagerten Verfahren degressiv ab, wofür ein nach den Umständen des Einzelfalls angemessener Degressionswert bestimmt werden muss. Zur Darstellung der degressiv abnehmenden Belastung können "Verfahrensbündel" gebildet werden, denen anhand des Degressionswertes sodann ein Entschädigungs-Teilbetrag zugewiesen wird.

7. Die Berücksichtigung der Anzahl der abhängigen Verfahren bei der Bemessung der billigen Entschädigung in dem das Pilotverfahren betreffenden Entschädigungsprozess stellt sicher, dass der durch die Überlänge bedingte immaterielle Nachteil (nur) dort bewertet und ausgeglichen wird, wo er auch eintritt, nämlich im Rahmen des Entschädigungsprozesses, der die Verzögerung des Pilotverfahrens behandelt. Die durch die Überlange eines Pilotverfahrens verursachten passiven Auswirkungen auf - vom Pilotverfahren abhängige - Parallelverfahren, die während der Bearbeitung des Pilotverfahrens faktisch ruhen, sind objektiv dem Pilotverfahren zurechenbar und nicht den Parallelverfahren.

8. Nur dann, wenn durch die (Nicht-) Bearbeitung des abhängigen Parallelverfahrens selbst weitere Verzögerungen eintreten, kommt auch im Entschädigungsprozess des abhängigen Parallelverfahrens die Entstehung eines weitergehenden immateriellen Nachteils in Betracht.

 

Normenkette

GVG § 198

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 15.12.2022; Aktenzeichen III ZR 192/21)

 

Tenor

1. Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger 6.426,61 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30. April 2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 44 % und das beklagte Land zu 56 %.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht das beklagte Land vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

5. Der Streitwert wird auf eine Wertstufe bis 13.000 Euro festgesetzt.

 

Tatbest...

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