Entscheidungsstichwort (Thema)

Schutz- und Unterbindungsgewahrsam nach dem nach dem Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 NPOG von den Verwaltungsbehörden oder der Polizei unverzüglich zu beantragende richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene eine richterliche Entscheidung "wünscht". Die Notwendigkeit der richterlichen Entscheidung ist nicht von einer Klage, Beschwerde oder einem Antrag des Betroffenen abhängig; ein Verzicht des Betroffenen auf die richterliche Entscheidung ist nicht möglich.

2. Auch in Fällen, in denen eine richterliche Anhörung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist, ist gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 NPOG gleichwohl unverzüglich eine richterliche Entscheidung zu beantragen; diese ergeht gegebenenfalls ohne vorherige Anhörung.

3. Im Falle einer Freiheitsentziehung nach § 18 NPOG kommt eine mündliche oder telefonische richterliche Entscheidung oder "Bestätigung" der Freiheitsentziehung nicht in Betracht, § 19 Abs. 3 Satz 4 NPOG.

4. Eine "rein polizeiliche" Ingewahrsamnahme kann es nach § 18 NPOG - außer im Falle des § 19 Abs. 1 Satz 3 NPOG, wenn eine richterliche Entscheidung zur Verlängerung der Ingewahrsamnahme und damit zu einer Vertiefung des Grundrechtseingriffs führen würde - nicht geben.

 

Normenkette

FamFG § 63 Abs. 1; GG Art. 8 Abs. 1, Art. 104 Abs. 2 Sätze 1-2; SOG ND §§ 10, 18 Abs. 1 Nrn. 1-2, § 19 Abs. 1 Sätze 1, 3, Abs. 2-3, 4 Sätze 1, 4-5; StGB § 315 Abs. 1 Nrn. 2, 4, Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Wolfsburg (Beschluss vom 02.06.2020; Aktenzeichen 3a XIV 291)

AG Wolfsburg (Beschluss vom 02.06.2020; Aktenzeichen 3a XIV 290)

AG Wolfsburg (Beschluss vom 04.12.2020; Aktenzeichen 3a XIV 293)

 

Tenor

1.Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 1. vom 24. Juni 2020 - 3 W 104/20 - wird der Beschluss des Amtsgerichts Wolfsburg vom 2. Juni 2020 - 3a XIV 291 - aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die am 2. Juni 2020 von 10.36 Uhr bis 17.31 Uhr andauernde Ingewahrsamnahme der Beteiligten zu 1. durch die Beteiligte zu 4. rechtswidrig war.

2.Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 2. vom 24. Juni 2020 - 3 W 105/20 - wird der Beschluss des Amtsgerichts Wolfsburg vom 2. Juni 2020 - 3a XIV 290 - aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die am 2. Juni 2020 von 10.36 Uhr bis 17.40 Uhr dauernde Ingewahrsamnahme des Beteiligten zu 2. durch die Beteiligte zu 4. rechtswidrig war.

3.Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 3. vom 28. Dezember 2020 - 3 W 3/21 - wird der Beschluss des Amtsgerichts Wolfsburg vom 4. Dezember 2020 - 3a XIV 293 - abgeändert und festgestellt, dass die am 2. Juni 2020 von 10.36 Uhr bis 17.48 Uhr dauernde Ingewahrsamnahme des Beteiligten zu 3. durch die Beteiligte zu 4. rechtswidrig war.

4.Gerichtskosten werden für die Beschwerdeverfahren nicht erhoben. Die Beteiligte zu 5. hat die jeweiligen notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführer zu tragen.

5.Der Geschäftswert für die Beschwerdeverfahren wird auf jeweils 5.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Beschwerdeführer wenden sich nachträglich dagegen, dass sie in Unterbindungsgewahrsam gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 lit. a NPOG genommen worden sind.

Am 2. Juni 2020 fand vor dem Amtsgericht Wolfsburg die öffentliche Hauptverhandlung in der Strafsache gegen einen Umweltaktivisten statt, dem vorgeworfen wurde, im Jahr 2019 im Rahmen einer Protestaktion gegen den Steinkohleabbau eine Straftat begangen zu haben. In der Presse und in sozialen Medien war zur Unterstützung des Angeklagten aufgerufen worden. Es war eine Demonstration angemeldet worden mit Aufzug auf der Route vom Hauptbahnhof zum Amtsgericht und dortiger Abschlusskundgebung; der Demonstrationszug startete um 10.19 Uhr auf der vorgesehenen Route. Bei zwei Demonstrationsteilnehmern, die sich von dem Demonstrationszug entfernten, stellte die Polizei Kletterutensilien sicher.

Gegen 10.20 Uhr wurden von einem Angehörigen eines privaten Sicherheitsdienstes vier Personen beobachtet, die - abseits des in eine andere Richtung ziehenden Demonstrationszuges - im Begriff waren, sich von der "Stadtbrücke" in Wolfsburg - einer im Privateigentum eines Unternehmens stehenden öffentlich zugänglichen Fußgängerbrücke - über den Mittellandkanal abzuseilen. Die Beteiligten zu 2. und 3. hatten sich bereits mittels Klettergurten und Kletterseil am Brückengeländer gesichert und waren dabei, der Beteiligte zu 1. und einer vierten Person zu helfen, sich ebenfalls mittels Klettergurten und Kletterseil am Brückengeländer zu sichern. Eine der vier Personen stand schon auf der Außenseite des Brückengeländers.

Im Bereich der Stadtbrücke sind sowohl das Nord- als auch das Südufer des Mittellandkanals auf mehreren hundert Metern als Liegestellen (Lände) für Binnenschiffe ausgestaltet; unmittelbar östlich der Brücke befindet sich am Nordufer die Anlegestelle für Personenschiffe, ca. einen Kilometer weiter der Yachthafen Wolfsburg. Ca. 120 m westlich der Stadtbrücke befind...

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