Leitsatz (amtlich)

1. Bei einem Berliner Testament in der typischen Konstellation, dass die Ehegatten als Schlusserben jeweils ihre gemeinsamen Kinder und zu gleichen Teilen berufen haben, ist in der Frage der Wechselbezüglichkeit der Schlusserbenbestimmungen die Vermutung des § 2270 Abs. 2 BGB zugleich Ausdruck des Erfahrungssatzes, wonach jeder Ehegatte die gemeinsamen Kinder für den Fall seines eigenen Vorversterbens ausschließlich deshalb enterbt, weil er darauf vertraut, dass infolge der Schlusserbeneinsetzung des anderen Teils das gemeinsame Vermögen eines Tages auf die Kinder übergehen wird (Anschluss an OLG München NJW-RR 2011, 227 und 1020; Abgrenzung zu BayObLG FamRZ 1986, 392, Rn. 49).

2. Die Prüfung der auslegungserheblichen Umstände spitzt sich daher auf die Frage zu, ob sich darin - innerhalb oder außerhalb des Testaments - eine Willensbekundung der Ehegatten objektiviert hat, die trotz dieses zuverlässigen Erfahrungshintergrunds mit der Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB nicht in Einklang steht.

3. Bei der Auslegung nachfolgender Willensbekundungen des überlebenden Ehegatten hat - gegebenenfalls - entsprechend § 157 BGB zugleich eine Beurteilung aus der objektiven Sicht (Empfängerhorizont) des anderen Ehegatten stattzufinden (BGH NJW 1993, 256, Rn. 12). Dieser objektive Verständnishorizont des anderen Teiles wird sich bei der vorliegenden Fallgestaltung in der Regel weitgehend mit dem dargelegten Erfahrungssatz decken, auf dem die Vermutung des § 2270 Abs. 2 BGB aufbaut.

4. Ein (Rechtsfolgen-)Irrtum der testierenden Ehegatten über die mit dem Tod des vorversterbenden Teiles eintretende Bindungswirkung bei wechselbezüglichen Verfügungen stellt grundsätzlich keinen zur Anfechtung berechtigenden Inhaltsirrtum und somit auch keinen in der Frage der Wechselbezüglichkeit beurteilungserheblichen Umstand dar (Anschluss an OLG München NJW-RR 2011, 1020, Rn. 29 ff.).

5. Die Bestimmung, dass der überlebende Ehegatte "die Verfügungsgewalt über das gemeinsame Vermögen haben" soll, genügt nicht den Anforderungen an eine sog. Freistellungsklausel.

 

Normenkette

BGB §§ 133, 2270 Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Würzburg (Beschluss vom 14.09.2015; Aktenzeichen 4 VI 1389/15)

 

Tenor

I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des AG - Nachlassgerichts - Würzburg vom 14.9.2015 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

II. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

III. Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens entspricht ¾ des um die Nachlassverbindlichkeiten bereinigten Wertes des Aktivnachlasses im Zeitpunkt des Erbfalls.

 

Gründe

I. Die vier Beteiligten sind die gemeinsamen Kinder aus der Ehe des Erblassers und seiner am xx.xx.2014 vorverstorbenen Ehefrau. In einem gemeinschaftlichen Testament vom 16.6.1992 (künftig auch nur: Testament I oder Ausgangstestament) hatten sich die Ehegatten gegenseitig zu Alleinerben und ihre vier Kinder als Schlusserben eingesetzt. Die Urkunde lautet auszugsweise:

"Wir, die Eheleute ... setzen uns gegenseitig als Alleinerben ein.

Das heißt, der überlebende Ehegatte ist Alleinerbe und hat die Verfügungsgewalt über das gemeinsame Vermögen.

Für den Fall des Ablebens des 2. Ehegatten fällt das gesamte gemeinsame Vermögen den Kindern aus unserer Ehe zu gleichen Teilen zu.

Das elterliche Anwesen ... soll als Gesamtheit erhalten bleiben."

In einer maschinenschriftlichen "Ergänzung zum Testament vom 16.6.92" aus dem Jahre 2010 (im folgenden nur: Ergänzung I), die vom Erblasser verfasst und erstellt worden war, sind zahlreiche abweichende Anordnungen der Eheleute niedergelegt. Die einleitende Bestimmung lautet:

"Nach unserem Ableben, ev. zuvor, wenn es der gesundheitliche Zustand verlangt, soll H. (Anmerkung d. Senats: gemeint ist der Antragsgegner) das Anwesen und dessen Verwaltung übernehmen. Er hat am meisten dafür getan. Als Wohnung sollen unsere Wohnräume ihm dienen."

Eine gute Woche vor seinem Tod hatte der Erblasser am xx.xx.2015 ein notarielles Testament (fortan: Testament II) errichten lassen, in dem er unter Widerruf der "Verfügungen des ... Testaments vom 16.6.1992 hinsichtlich der Schlusserbeneinsetzung" den Antragsgegner (künftig nur: AG) zum Alleinerben einsetzte sowie weitere ergänzende Anordnungen traf.

Bereits im Sommer 2014 hatte der Erblasser auf einer Ablichtung des gemeinschaftlichen Testaments am Ende des Textes handschriftlich vermerkt:

"Für den Fall des Ablebens eines der Kinder fällt sein Erbteil zu 100 % seinen Kindern zu."

Dieser vom Erblasser unterschriebene Nachtrag (nachfolgend nur: Ergänzung II) datiert vom 6.8.2014.

Beide Antragsteller (fortan nur: AS) haben die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins beantragt, der die Beteiligten als - im Ausgangstestament berufene - Miterben zu je ¼ ausweist.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sachverhaltsdarstellung der angefochtenen Entscheidung des Nachlassgerichts Bezug genommen.

Das AG hat festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung des beantragten Erbscheins vorliegen. Hiergegen richtet sich die Beschwe...

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