Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Berichtigung eines Arbeitgeberversehens bei der Berechnung des Arbeitsentgelts mit Auswirkungen auf Beitragspflicht. Grundsatz der Unveränderlichkeit eines "abgewickelten" Versicherungsverhältnisses

 

Orientierungssatz

1. Kommt es aufgrund einer irrtümlich unterbliebenen Anwendung einer steuerrechtlichen Bestimmung zu einer fehlerhaften Berechnung des Arbeitsentgelts für die Vergangenheit, kann dieses Versehen nachträglich auch mit Auswirkungen auf die Beitragspflicht berichtigt werden (vgl BSG vom 7.2.2002 - B 12 KR 13/01 R = SozR 3-2400 § 14 Nr 24).

2. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die maßgebliche steuerrechtliche Bestimmung ihrem inhaltlichen Regelungsgehalt nach unverändert geblieben ist und sie nur versehentlich durch den Arbeitgeber nicht angewandt worden ist (vgl LSG Mainz vom 27.9.2012 - L 4 R 437/10).

3. Die im Steuerrecht zulässige rückwirkende Anwendung von § 3 Nr 26 EStG auf für in vergangenen Abrechnungszeiträumen gezahlte Aufwandsentschädigungen ist rechtlich zulässig und führt auch in der Sozialversicherung nachträglich zur Beitragsfreiheit. Sie steht im Einklang mit dem das Sozialversicherungsrecht prägenden Grundsatz der Unveränderlichkeit eines sogenannten "abgewickelten" Versicherungsverhältnisses (vgl BSG vom 30.11.78 - 12 RK 26/78 = BSGE 47, 211 = SozR 2200 § 160 Nr 7 und BSG vom 28.5.1980 - 5 RKn 21/79 = BSGE 50, 129 = SozR 2600 § 121 Nr 2).

 

Normenkette

EStG § 3 Nr. 26; SGB IV § 14 Abs. 1 S. 1, § 22 Abs. 1 S. 1, § 26 Abs. 2, § 27 Abs. 1 S. 1, § 28h Abs. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 197a Abs. 1 S. 1; GKG § 52 Abs. 3 S. 1

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 16.12.2015; Aktenzeichen B 12 R 1/14 R)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11.11.2011 aufgehoben. Der Bescheid der Beklagten vom 15.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.08.2009 wird insoweit aufgehoben, als in Höhe von 31.938,05 € Gesamtsozialversicherungsbeiträge nachgefordert worden sind.

2. Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt die Beklagte. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

4. Der Streitwert wird auf 31.938,05 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts und die hieraus resultierenden Gesamtsozialversicherungsbeiträge für das Jahr 2006 für 30 Beschäftigte (Beigeladene zu 1 - 30), wie sie von der Beklagten im Rahmen einer Betriebsprüfung festgestellt worden sind.

Im Dezember 2006 führte die Klägerin als Arbeitgeberin der Beigeladenen zu 1 - 30 die Gesamtbeiträge zur Sozialversicherung abzüglich eines Betrages in Höhe von 31.938,05 € ab. Bei dieser Beitragsentrichtung brachte sie rückwirkend für die nebenberuflich als Pflegekräfte bei ihr tätigen Beigeladenen zu 1 - 30 eine steuerfreie Aufwandsentschädigung gemäß § 3 Nr. 26 Einkommenssteuergesetz (EStG) in der vorgenannten Höhe für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.11.2006 im Wege der maschinellen Beitragsrückrechnung in Ansatz und minderte damit die beitragspflichtigen Arbeitsentgelte für diesen Zeitraum.

In der Zeit vom 12.11.2007 bis zum 14.01.2008 fand bei der Klägerin eine Betriebsprüfung statt. Dabei stellte die Beklagte unter anderem fest, dass der Steuerfreibetrag gemäß § 3 Nr. 26 Einkommenssteuergesetz (EStG) durch die Klägerin rückwirkend angesetzt worden war, wodurch es zu einer Minderung des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts der Beigeladenen zu 1 - 30 für die Kalenderjahre 2005 und 2006 kam.

Mit Bescheid vom 15.02.2008 machte die Beklagte einen Betrag in Höhe von insgesamt 35.796,60 € geltend, wovon 31.908,05 € auf die von der Klägerin vorgenommene rückwirkende Anwendung des § 3 Nr. 26 EStG entfiel. Ihre Nachforderung begründete sie damit, dass die rückwirkende Ansetzung der steuerfreien Aufwandsentschädigung nicht möglich sei. Im Sozialversicherungsrecht könne es aus Gründen der Rechtssicherheit grundsätzlich nicht hingenommen werden, dass nach Auszahlung des Arbeitsentgeltes und dessen Nachweis gegenüber den Einzugsstellen die Bestimmung über die endgültige Höhe des Arbeitsentgeltes und damit die Höhe der Beiträge von rückwirkend in Anspruch genommenen Rechtsvorschriften wie z. B. § 3 Nr. 26 EStG abhänge.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin beschränkt auf die Feststellungen zur rückwirkenden Nichtanwendbarkeit des § 3 Nr. 26 EStG Widerspruch ein und führte aus, ein rückwirkender Eingriff in ein rechtmäßig abgewickeltes Versicherungsverhältnis liege durch die rückwirkende Berücksichtigung des Steuerfreibetrages gemäß § 3 Nr. 26 EStG nicht vor. Die rückwirkende Ansetzung dieses Freibetrages sei korrekt und zutreffend. Maßgeblich für die Entstehung von Beitragsansprüchen sei das Arbeitsentgelt gemäß § 14 SGB IV. Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 SGB IV würden steuerfreie Aufwandsentschädigungen und die in § 3 Nr. 26 EStG genannten steuerfreien Einnahmen jedoch nicht als A...

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