Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstellung der Rentenzahlung an Bewohner der Colonia Dignidad wegen nicht sichergestelltem Zufluß

 

Orientierungssatz

Weder § 2 Abs 2 noch § 17 Abs 1 Nr 1 SGB 1 enthalten eine Ermächtigungsgrundlage für die Einstellung der Rentenzahlung an einen Bewohner der Colonia Dignidad in Chile.

 

Tatbestand

Streitig ist die Einstellung der Rentenzahlung an die Klägerin ab November 1997.

Die 1928 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und seit März 1963 in Chile ansässig. Sie wohnt in P und gehört der ehemaligen "S B Y E D" (sogenannte Colonia Dignidad -- CD --) an.

Am 11.08.1993 beantragte die Klägerin die Klärung ihres Versicherungskontos sowie die Zahlung einer Altersrente. Im September 1994 lud die Beklagte die Klägerin zu einem am 19.10.1994 in Ch/Chile von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland unter Beteiligung der BfA und der Beklagten veranstalteten Rentensprechtag ein. Die Klägerin wurde darauf hingewiesen, daß im Falle einer unentschuldigten Nichtteilnahme eine Versagung der Rente in Betracht komme. Nach dem Protokoll des Rentensprechtages ist die Klägerin dort am 19.10.1994 in Begleitung ihres Prozeßbevollmächtigten wie auch ihres Sohnes R Z erschienen und hat ausgesagt, sie wohne gemeinsam mit dem Ehemann in der Villa B. Die Wohnung sei von dem Schlachter B gemietet; die Miete werde vom Gehalt des Ehemannes abgezogen. Das Gelände gehöre Z F. Sie lebe dort seit 1984. Ihr Aufenthalt sei selbstverständlich freiwillig. Sie könne überall hinfahren. Die Rente solle per Scheck gezahlt werden, da sie über kein eigenes Konto verfüge. Die Scheckeinlösung solle ggf. durch die Familie erfolgen. Über die Rente werde sie frei verfügen können. Abtretungen seien weder erfolgt noch beabsichtigt. Sie lebe zur Zeit vom Gehalt des Ehemannes.

Mit Bescheid vom 08.09.1995 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine Altersrente ab dem 01.08.1993 in Höhe eines Nachzahlungsbetrages von 14.169,17 DM sowie monatlicher laufender Zahlungen in Höhe von zunächst 555,08 DM.

Ohne Anhörung der Klägerin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 29.09.1997 und Widerspruchsbescheid vom 21.10.1997 die Zahlung der Altersrente ein. Sie begründete dies mit einer nach §§ 2 Abs. 2 und 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I bestehenden Obhutspflicht der Rentenversicherungsträger, dafür zu sorgen, das jeder Berechtigte die ihm vom Gesetz zugedachte Rente auch tatsächlich erhalte und für sich nutzen könne. Aufgrund der in der CD herrschenden Verhältnisse sei davon auszugehen, daß die Klägerin unter dem von der Leitung der CD ausgeübten Zwang die Rente tatsächlich nicht werde nutzen können. Die Obhutspflicht könne daher nur dadurch realisiert werden, daß die Rentenzahlung vorläufig eingestellt werde. In ihrer Rechtsansicht hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die Sicherstellung des Zuflusses und der zweckentsprechenden Verwendung der Rente sehe sich die Beklagte durch bereits ergangene Entscheidung des Bundessozialgerichts bestätigt (4 RA 54/93 und 4 RA 44/94, SozR 3 1200 § 66 Nr. 3).

Mit ihrer Klage ist die Klägerin der Rechtsauffassung der Beklagten entgegengetreten. Es gebe für die Einstellung der Regelaltersrente keine Rechtsgrundlage.

Die Beklagte hat sich weiterhin hinsichtlich ihrer Auffassung zur Rechtsgrundlage auf ergangene Entscheidungen des 4. Senats beim BSG berufen und in tatsächlicher Hinsicht nachgetragen, aus einer vor dem Sozialgericht Berlin durchgeführten Vernehmung hätten sich noch weitere Hinweise auf die von ihr angenommenen Zustände in der CD ergeben.

Mit Urteil vom 06.10.1998 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin monatliche Regelaltersrente ab dem 01.11.1997 in Höhe von 569,61 DM und ab dem 01.07.1998 in Höhe von 572,13 DM zu zahlen. Das Sozialgericht hat hinsichtlich der Prozeßfähigkeit der Klägerin keine konkreten Anlässe zu Zweifeln gefunden. Aus den allgemeinen Zuständen innerhalb der CD und hierzu vorliegenden Erkenntnissen könne nicht auf den Einzelfall der Klägerin geschlossen werden. Die §§ 2 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I böten keine Ermächtigungsgrundlage für die Einstellung der Rente.

Gegen das ihr am 03.12.1998 zugestellte Urteil richtet sich die am 30.12.1998 eingegangene Berufung der Beklagten, mit der sie weiterhin die Auffassung vertritt, sie habe als Sozialleistungsträgerin dafür Sorge zu tragen, daß Sozialleistungen die Leistungsberechtigten tatsächlich erreichten und einer im Zwecke der Sozialleistung liegenden Verwendung zugeführt werden könnten. Nach den bekanntgewordenen allgemeinen Umständen in der CD hätten sich Gründe der Versagung bzw. Entziehung herausgestellt, die durch Erkenntnisse in Verfahren vor dem Landessozialgericht Berlin und einem vorgelegten Bericht von Dr. D B bestätigt würden. Ferner habe sich bei einem Rentensprechtag in Chile am 19.10.1994 die Vermutung bestätigt, daß sie -- die Beklagte -- ihrer Obhutsverpflichtung nur nachkommen könne, wenn sie die Zahlung einstelle.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des...

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