Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung von Grundsicherungsleistungen für einen EU-Neubürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Die Rechtsfrage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB 2 für sog. EU-Neubürger mit einer unbeschränkten und unbefristeten Arbeitsgenehmigung-EU vereinbar ist, lässt sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend klären. Unter Berücksichtigung der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung und der existenzsichernden Leistungen des SGB 2 ist deshalb eine Folgenabwägung vorzunehmen.

2. Hat der Antragsteller als Arbeitsuchender eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt glaubhaft gemacht, so stehen ihm grundsätzlich alle Leistungen nach dem SGB 2 zur Verfügung. Eine Differenzierung zwischen Fürsorge- und Eingliederungsleistungen nach dem SGB 2 ist nicht gerechtfertigt.

3. Der Anspruch ist auf die vorläufige Gewährung des gesetzlichen Regelbedarfs nach § 20 Abs. 2 SGB 2 und des Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 3 SGB 2 beschränkt.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 28.11.2011 geändert. Der Antragsgegner wird einstweilen und vorläufig verpflichtet, den Antragstellern Arbeitslosengeld II nach den §§ 19 - 21 SGB II vom 31.10.2011 bis zum 30.06.2012 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge.

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe ab Antragstellung (19.12.2011) gewährt und Rechtsanwältin U aus L beigeordnet.

 

Gründe

Die zulässigen Beschwerden der Antragsteller (Ast) sind begründet. Das Sozialgericht (SG) hat zu Unrecht eine Verpflichtung des Antragsgegners (Ag) abgelehnt, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in dem tenorierten Umfang zu erbringen. Denn sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind hinreichend glaubhaft gemacht worden.

Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen seit 31.10.2011 (Eingang des Antrages auf Erlass der einstweiligen Anordnung) vor. Nach dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5,237 = NVwZ 2005, Seite 927).

Ob dem Anspruch der Ast der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Nach dieser Vorschrift besteht ein Leistungsausschluss für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.

Zwar sind nach dem Wortlaut dieser Norm die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach summarischer Prüfung erfüllt. Denn die Ast sind als bulgarische Staatsangehörige Ausländer, wobei sich das Aufenthaltsrecht der Ast zu 1) allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Das Aufenthaltsrecht ihres 2000 geborenen Sohnes - Ast zu 2) - folgt ihrem Aufenthaltsrecht.

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, die einen Leistungsausschluss ohne entsprechende Öffnungsklausel insbesondere für sog. "Alt-Unionsbürger" normiert, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar und damit für EU-Bürger einschränkend auszulegen ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 29.02.2012 - L 20 AS 2347/11 B ER - und vom 03.04.2012 - L 5 AS 2157/11 - mit weiteren Hinweisen auf den Meinungsstand; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.05.2010 - L 7 B 489/09 AS ER). Soweit der erkennende Senat in Entscheidungen, in denen es um den Leistungsausschluss von sog. "EU-Neubürgern" aus Rumänien und Bulgarien infolge ihrer eingeschränkten EU-Freizügigkeit geht, davon ausgegangen ist, dass die Vorschrift des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar ist (vgl. Beschluss des Senats vom 18.11.2011 - L 7 AS 614/11 B ER), betrafen diese Sachverhal...

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