Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Hilfsmittel. Spezialtherapiedreirad. Abwendung konkret drohender Verschlimmerung bestehender Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen

 

Orientierungssatz

Ein Spezialtherapiedreirad (hier: Therapiedreirad-Tandem, das so konzipiert ist, dass nur die verantwortliche Person das Fahrrad lenken kann, während die zweite Person die Fortbewegung durch Beinkraft unterstützt) dient der Vorbeugung einer drohenden Behinderung iSd § 33 Abs 1 S 1 Alt 2 SGB 5 nicht nur dann, wenn eine erstmalige beeinträchtigende Regelabweichung droht, sondern auch wenn eine bereits bestehende Behinderung (hier: Gleichgewichts- und Koordinationsstörung) sich zu verschlimmern droht.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 07.05.2020; Aktenzeichen B 3 KR 7/19 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 23. Februar 2017 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beklagte wendet sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Hannover, mit dem sie zur Erstattung von Kosten für die Anschaffung eines Spezialtherapierads verurteilt worden ist.

Die Klägerin (* 1993; Grad der Behinderung (GdB) 100, Merkzeichen G, H) ist gesetzliches Mitglied der beklagten Krankenkasse (KK). Sie beantragte am 6. Juli 2012 unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung vom 5. Juli 2012 (Bl 1 des von der Beklagten übersandten Verwaltungsvorgangs (VV)) und zweier Kostenvoranschläge die Versorgung mit einem Spezialtherapierad (Schreiben v. selben Tage = Bl 12 VV). Im Laufe des Verfahrens übersandte die Klägerin auf Veranlassung der Beklagten (Schreiben v. 20. Juli 2012 = Bl 21 VV) den ausgefüllten Vordruck „Fragebogen bei Verordnung eines Hilfsmittels“ (Bl 22 VV). Danach soll das Hilfsmittel täglich zum Muskelaufbau/-stärkung und allgemeinem Training des Bewegungsapparats eingesetzt werden. Durch den Einsatz des Hilfsmittels sei eine Linderung der Beschwerden zu erwarten (Gelenke und Hüften würden auf schonende Weise beweglich gehalten, das Herz-Kreislauf-System werde gefördert und unterstützt, Gewichtsverlust).

Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) Niedersachsen und im Lande Bremen ein Gutachten nach Aktenlage (v. 13. Juli 2012 = Bl 19 VV (Dr. G.)). Ausgehend von den Diagnosen

• globale Entwicklungsverzögerung,

• Gleichgewichtsstörungen,

• Hüftdysplasie links und

• statomotorisches Entwicklungsdefizit

sprach der MDK keine Empfehlung aus. Bislang sei weder eine „Reha-Karre“ noch ein Rollstuhl zur Verfügung gestellt worden. Daraus sei zu schließen, dass zumindest in Begleitung eine reelle Gehstrecke im Nahbereich der Wohnung zu Fuß zurückgelegt werden könne. Ggf müsse ansonsten ein Rollstuhl zur Verfügung gestellt werden. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung handele es sich bei einem Therapiedreirad nicht um ein Hilfsmittel, da es hierbei im Wesentlichen um die Erschließung von Wegstrecken gehe, die außerhalb des Nahbereichs der Wohnung lägen. Für den Nahbereich sei die vorhandene Gehfähigkeit, ggf ergänzt durch einen Schieberollstuhl, ausreichend. Die therapeutischen Zielsetzungen gemeinsamer Fahrradfahrten seien nach Auffassung der Rechtsprechung als nachrangig zu werten, da mit krankengymnastischer Übungsbehandlung eine ausreichende Therapie-möglichkeit zur Verfügung stehe.

Daraufhin lehnte die Beklagte die beantragte Versorgung ab (Bescheid v. 31. August 2012 = Bl 24 VV). Die Begründung deckte sich mit den Ausführungen des MDK. Der von der Klägerin erhobene Widerspruch (Schreiben v. 12. September 2012 = Bl 26 VV = Bl 3 dA; Eingang bei der Beklagten: 14. September 2012) blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid v. 6. Dezember 2012 = Bl 35 VV). Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV) sei allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich des Behandlungserfolgs, um ein selbstständigeres Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüberhinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation sei hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Lediglich Mobilitätshilfen für Kinder und Jugendliche könnten von der gKV übernommen werden, wenn sie der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens dienten. Radfahren mit einem Therapie-Tandem gehöre nicht dazu. Zur Therapie der bei der Klägerin bestehenden Gleichgewichtsstörungen ständen andere Möglichkeiten und Maßnahmen zur Verfügung (Hinweis auf Behindertensport, Krankengymnastik, Ergotherapie). Die Verordnung schließe zudem nicht den in den Kostenvoranschlägen enthaltenen Elektroantrieb ein. Außerdem seien die Anbieter nicht Vertragspartner der Beklagten, so dass keine Berechtigung zur Hilfsmittelversorgung für Versicherte der Beklagten vorliege.

Die Klägerin hat am 7. Januar 2013 Klage bei dem SG Hannover erhoben und - nachdem am 12....

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