Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Anspruch auf Krankenbehandlung. Kostenübernahme für eine operative Mammakorrektur bei Poland-Syndrom. Entstellung

 

Orientierungssatz

1. Krankheit iS der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein regelwidriger Körperzustand, der ärztlicher Behandlung bedarf. Erforderlich ist, dass entweder eine körperliche Fehlfunktion besteht oder eine Abweichung vom Regelfall vorliegt, die entstellend wirkt. Eine Entstellung setzt voraus, dass die körperliche Abweichung so ausgeprägt ist, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi im Vorbeigehen bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (vgl BSG vom 28.2.2008 - B 1 KR 19/07 R = BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14).

2. Bei einer angeborenen körperlichen Störung der weiblichen Brust in Form des Poland-Syndroms handelt es sich um eine komplexe Fehlbildung der Thoraxwand mit rechtsseitigem Fehlen der Pectoralis major-Muskulatur mit einer Fehlbildung der Brustdrüse und damit um eine Krankheit.

3. Damit kommt es bei der Frage der Behandlungsbedürftigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Frage der entstellenden Wirkung nicht an. Weil es sich bei dem Poland-Syndrom um eine angeborene körperliche Störung und damit um eine Krankheit iS von § 27 SGB 5 handelt, ist eine angleichende operative Mammakorrektur die geeignete und erforderliche Behandlungsmaßnahme. Deren Kosten sind somit von der Krankenkasse zu tragen.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 25. März 2010 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. Februar 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2009 verurteilt, der Klägerin eine operative angleichende Mammakorrektur zu gewähren.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Kosten einer operativen Mammakorrektur zu übernehmen hat.

Die 1988 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet unter einem Poland-Syndrom, also unter einer angeborenen Fehlbildung der Thoraxwand, bei der rechtsseitig der Brustmuskel fehlt und die Brustdrüse fehlgebildet ist. Die Folge ist eine massive Asymmetrie ihrer Brüste. Sie wird daher seit vielen Jahren von der Beklagten mit einer Brustprothese versorgt, die in etwa jährlichen Abständen ausgetauscht wird.

Im August 2008 beantragte sie bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine operative Mammakorrektur. Ihrem Antrag fügte sie ein Attest des Arztes Dr. W. vom 9. März 2006 bei, der ausführte, die linke Brust der Klägerin sei ptotisch, der Jugulum-Mamillen-Abstand betrage 23,5 cm. Die rechte Brust sei straff mit einem auffallenden Volumendefizit, der Jugulum-Mamillen-Abstand betrage hier nur 16 cm. Auf der rechten Seite könne kein Musculus pectoralis major getastet werden, es liege somit ein Poland-Syndrom vor. Ein zufriedenstellendes Ergebnis lasse sich am ehesten dadurch erzielen, dass die rechte Brust durch ein Mammainplantat vergrößert und gleichzeitig die linke Brust reduzierend gestrafft werde. Eine medizinische Indikation für eine solche Operation sei eindeutig gegeben.

Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherungen (MDK) Nord stellte in seinem Gutachten vom 5. Januar 2009 fest, bei der Klägerin bestehe ein Poland-Syndrom mit einer deutlichen Asymmetrie zu Gunsten der linken Brust. Dieses führe jedoch weder zu einer Funktionsbeeinträchtigung noch liege eine Entstellung vor, sodass die geplante Maßnahme eine rein kosmetische Korrektur darstelle.

Die Beklagte lehnte daraufhin die Kostenübernahme durch Bescheid vom 4. Februar 2009 ab. Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie wolle lediglich ein normales Erscheinungsbild erreichen. Sie könne keine enge Kleidung oder einen Bikini tragen und sich nach dem Sportunterricht oder im Fitnessstudio nicht umziehen. Viele Freizeitaktivitäten seien ihr daher verwehrt. Sie habe außerdem ständig Angst, ihre Prothese zu verlieren und sei in ihrem Alltag und im Privat- und Intimleben stark eingeschränkt.

In einem weiteren Gutachten vom 11. Mai 2009 vertrag der MDK erneut die Auffassung, dass eine Funktionsstörung nicht gegeben sei und die zweifelsfrei bestehende erhebliche Asymmetrie durch entsprechende Bekleidung im täglichen Leben kaschiert werden könne. Andererseits bestehe sehr wohl eine seltene angeborene Fehlbildung der Brustdrüse und des Muskels. Die vom Behandler vorgeschlagene Mamma-Augmentation rechts nebst angleichender Brustverkleinerung links sei ein geeignetes chirurgisches Vorgehen.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 30. November 2009 zurück, da weder eine Funktionseinschränkung noch eine Entstellung gegeben sei. Eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe daher nicht.

Mit ihrer dageg...

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