Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren: Voraussetzungen des Erlasses eines Gerichtsbescheides. Umfang der Sachaufklärungspflicht des Sozialgerichts

 

Orientierungssatz

1. Die Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheides gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG liegen nicht schon dann vor, wenn das Gericht seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung nachgekommen ist. Vielmehr muss für die Beteiligten der Sachverhalt tatsächlich geklärt sein, so dass für sie keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts verbleiben.

2. Die gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nach § 45 SGB 10 ist grundsätzlich nicht als rechtlich einfach anzusehen, so dass der Erlass eines Gerichtsbescheides in einer solchen Konstellation regelmäßig ausscheidet.

3. Ein Sozialgericht erfüllt seine Verpflichtung zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht regelmäßig erst durch Einholung eines Sachverständigengutachtens (Fortführung LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. April 2011, Az.: L 13 SB 80/10). Ein Rückgriff auf medizinische Gutachten, die vom Versicherungsträger im Verwaltungsverfahren angefertigt wurden, genügt dabei zur Sachaufklärung durch das Gericht nicht.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. Februar 2011 insoweit aufgehoben, als die gegen die Entziehung des Merkzeichens “G„ gerichtete Klage abgewiesen worden ist.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung des Merkzeichens “G„ (erhebliche Gehbehinderung).

Für die 1962 geborene Klägerin wurde im Jahre 2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 festgestellt. Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 15. März 2007 nebst Beantragung der Zuerkennung der Merkzeichen “G„ und “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) ließ der Beklagte die Klägerin nach Einholung von Befundberichten und einer versorgungsärztliche Stellungnahme am 23. August 2007 durch den Sozialmediziner begutachten, der im Gutachten vom 29. August 2007 keinen GdB im Stütz- und Halteapparat feststellte, jedoch eine psychiatrische Untersuchung empfahl. Dem folgend wurde die Klägerin am 14. November 2007 durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie begutachtet, die im Gutachten, datierend vom 14. August 2007, bei Verneinung der Merkzeichen “G„ und “RF„ einen Gesamt-GdB von 40 feststellte und dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB):

a) psychische Störungen, außergewöhnliche Schmerzreaktion, psychosomatische Störungen (40),

b) Restless-legs-Syndrom (10),

c) Asthma bronchiale (10).

Mit Bescheid vom 20. Dezember 2007 stellte der Beklagte unter Zuerkennung des Merkzeichens “G„ einen GdB von 70 fest. Dem wurden aufgrund einer versehentlichen Berücksichtigung von ärztlichen Unterlagen aus einem anderen Verfahren folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB):

a) Plasmozytom (60),

b) depressives Syndrom (20),

c) Bandscheibenschäden im Lendenwirbelsäulenbereich (10),

d) Asthma bronchiale (10).

Mit Schreiben vom 3. Januar 2008 legte die Klägerin Widerspruch ein, mit welchem sie sinngemäß das Merkzeichen “aG„ (außergewöhnliche Gehbehinderung) geltend machte.

Unter dem 19. Mai 2008 hörte der Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten teilweisen Rücknahme des Bescheides vom 20. Dezember 2007 an. Die erfolgte Feststellung des GdB von 70 bei Zuerkennung des Merkzeichens “G„ sei unrichtig. Unter Berücksichtigung der tatsächlich bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen sei lediglich ein GdB von 40 ohne Zuerkennung des Merkzeichens “G„ gerechtfertigt.

Nach Vorlage weiterer ärztlicher Unterlagen durch die Klägerin hinsichtlich der begehrten Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ holte die Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahme ein und veranlasste eine Lungenfunktionsdiagnostik sowie eine erneute Begutachtung der Klägerin durch die Versorgungsärztin Dr. die im Gutachten vom 2. September 2008 einen Gesamt-GdB von 50 feststellte, dem sie folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB):

a) psychische Störungen (Neurosen); außergewöhnliche Schmerzreaktion; psychosomatische Störung (40),

b) Schlafapnoe Syndrom; Bronchialasthma (20),

c) Restless-legs-Syndrom (10),

d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule; degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (10),

e) Bluthochdruck (10).

Dem folgend nahm der Beklagte mit Bescheiden vom 6. Oktober 2008 den Bescheid vom 20. Dezember 2007, gestützt auf § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), mit Wirkung für die Zukunft teilweise zu...

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