Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Zurückverweisung an das Sozialgericht. Verfahrensmangel. Entscheidung durch Gerichtsbescheid trotz nicht geklärtem Sachverhalt. Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch Unterlassen weiterer medizinischer Ermittlungen

 

Orientierungssatz

1. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt iS des § 105 Abs 1 S 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird.

2. Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Sicht bedarf es regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist.

 

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. März 2010 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 zusteht.

Für die 1966 geborene Klägerin wurde erstmals im Jahr 1976 eine Funktionsbeeinträchtigung in Form einer hochgradigen Schwerhörigkeit mit Sprachstörungen anerkannt und dafür eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 angesetzt. In der Folgezeit wurde die MdE bzw. später der GdB unter Anerkennung von weiteren Funktionsbeeinträchtigungen heraufgesetzt; zuletzt mit Bescheid vom 17. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2001 auf einen GdB von 90. Dem lag ein versorgungsärztliches Gutachten der Fachärztin für HNO-Krankheiten Dr. F vom 14. Mai 2001 zugrunde, welche nach Untersuchung der Klägerin ausgehend von einem Einzel-GdB von 90 für die praktische Taubheit beidseits mit Sprachstörungen sowie einem Einzel-GdB von 20 für ein chronisches Hautleiden die Anhebung des damals innegehabten GdB von 80 auf 90 empfohlen hatte.

Am 9. Januar 2006 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag wegen Verschlimmerung bestehender Behinderungen und Hinzutreten neuer Behinderungen. Die Klägerin machte geltend, dass der Hörverlust und der Tinnitus schlimmer geworden seien. Außerdem seien psychische Beeinträchtigungen sowie Nacken- und Kopfschmerzen hinzugekommen. Der Beklagte holte einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. F vom 27. März 2006 sowie eine gutachterliche Stellungnahme der versorgungsärztlichen Gutachterin M nach Aktenlage vom 31. Oktober 2006 ein. Die Gutachterin hat einen GdB von 90 festgestellt und dabei folgende Funktionsbeeinträchtigungen (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB) zugrunde gelegt:

a) praktische Taubheit beidseits mit Sprachstörung (90)

b) chronisches Hautleiden (20)

c) Kopfschmerzen (10)

d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (10)

Der Beklagte lehnte dem folgend mit Bescheid vom 21. Februar 2006 eine Anhebung des GdB auf 100 ab. Auf den dagegen gerichteten Widerspruch der Klägerin vom 6. März 2007 holte der Beklagte einen weiteren Befundbericht der Fachärzte für HNO L/Dr. R vom 9. März 2007 sowie eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme des HNO-Facharztes Dr. R nach Aktenlage vom 9. Juli 2007 ein. Dr. R hielt den bisherigen Einzel-GdB von 90 für die praktische Taubheit beidseitig mit den Sprachstörungen für ausreichend und angemessen und empfahl die Beibehaltung des Gesamt-GdB von 90. Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 2007 zurück.

Mit ihrer am 2. Oktober 2007 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage verfolgte die Klägerin ihr Begehren auf Zuerkennung eines GdB von 100 weiter. Sie verwies darauf, dass sie seit ihrer Geburt taub sei und fast gar nicht sprechen könne. Sie kämpfe seit Jahren für den Erhalt von Pflegegeld nach dem Berliner Landespflegegeldgesetz. Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. März 2010 gestützt auf das versorgungsärztliche Gutachten der HNO-Fachärztin Dr. F vom 4. Mai 2001 und Auswertung der im Verwaltungsverfahren erhobenen Befundberichte sowie der dazu ergangenen versorgungsmedizinischen Stellungnahmen nach Aktenlage abgewiesen.

Gegen den am 26. März 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 20. April 2010 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung vertieft die Klägerin ihr erstinstanzliches Vorbringen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. März 2010 sowie den Bescheid des Beklagten vom 21. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr ab 9. Januar 2006 einen GdB von 100 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Entscheidung für zutreffend.

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