Entscheidungsstichwort (Thema)

einstweilige Anordnung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Einreise zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Freizügigkeit. Europarechtskonformität

 

Leitsatz (amtlich)

1. Beruht das Aufenthaltsrecht eines Staatsangehörigen von Österreich allein auf dem Zweck der Arbeitsuche, hat er gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB 2.

2. Zweifel an der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses bestehen bei vorläufiger Prüfung im Eilverfahren nicht.

 

Orientierungssatz

1. Gem § 2 Abs 2 Nr 2 bzw Abs 3 Nr 2 FreizügG/EU 2004 besteht kein Aufenthaltsrecht als niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger mehr, wenn sowohl die eigentliche Erwerbstätigkeit als auch eine entsprechende Niederlassung iS von Art 43 EG nicht durch Vertragsunterlagen, Abrechnungen, Kontoauszüge oder auch Gewerbeanmeldung oder Steuererklärung glaubhaft gemacht wird.

2. Eine Einreise zur Begründung einer Lebensgemeinschaft begründet kein Aufenthaltsrecht gem § 3 FreizügG/EU 2004.

3. Wer nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, ist nicht als nicht erwerbstätiger Unionsbürger gem § 4 FreizügG/EU 2004 aufenthaltsberechtigt.

4. Das Diskriminierungsverbot gem Art 12 EG gilt nicht vorbehaltlos. Eine unterschiedliche Behandlung von Unionsbürgern ist zulässig, wenn sie durch objektive Gründe sachlich gerechtfertigt ist (vgl EuGH vom 23.1.1997 - C-29/95 = NZV 1997, 234 und vom 2.10.1997 - C-122/96 = NJW 1997, 3299).

5. Art 18 EG gewährleistet jedem Unionsbürger zwar grundsätzlich Freizügigkeit, gewährt indes keinen Leistungsanspruch gegen die öffentliche Hand iS eines Teilhaberechts von Unionsbürgern an soziale Vergünstigungen des Aufenthaltsstaates (vgl SG Reutlingen vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07; LSG Darmstadt vom 3.4.2008 - L 9 AS 59/08 B ER = NVwZ-RR 2008, 624).

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juni 2008 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S S gewährt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Antragstellerin, die österreichischer Staatsangehörigkeit ist, einen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) hat.

Die 1985 geborene Antragstellerin studierte nach eigenen Angaben von Oktober 2003 bis Februar 2007 in W an der Universität für Musik und Darstellende Kunst. Ihren eigenen Angaben nach brach sie dieses Studium ab, um mit ihrer damaligen deutschen Lebensgefährtin in B einen gemeinsamen Wohnsitz zu begründen. Nach dem Bruch dieser Beziehung mietete sie im August 2007 eine eigene Wohnung unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift.

Am 1. Oktober 2007 beantragte die Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II und bekundete gegenüber dem Antragsgegner laut eines von diesem gefertigten Gesprächsvermerks Interesse an einer Ausbildung im Bereich Film- und Tontechnik. Sie habe ein einjähriges Praktikum bei einem TV-Sender in Österreich absolviert.

Mit Bescheid vom 5. Dezember 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2008 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung ab, dass die Antragstellerin als Ausländerin, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeit- bzw. Ausbildungsplatzsuche ergebe, keinen Leistungsanspruch habe.

Am 29. April 2008 hat die Antragstellerin Klage erhoben. Sie hat zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und Prozesskostenhilfe (PKH) begehrt.

Durch Beschluss vom 6. Juni 2008, dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am 16. Juni 2008, hat das Sozialgericht Berlin der Antragstellerin für den ersten Rechtszug PKH bewilligt, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung indes abgelehnt. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Sie sei daher gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Diese Vorschrift verstoße auch nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Europarecht.

Hiergegen hat die Antragstellerin am 8. Juli 2008 Beschwerde eingelegt und zugleich PKH für das Beschwerdeverfahren beantragt.

Sie sei nicht allein zum Zweck der Arbeitsuche eingereist. Primärer Zweck sei die Bildung einer Lebensgemeinschaft mit ihrer damaligen Partnerin gewesen. Außerdem habe sie ein Aufenthaltsrecht aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit. Seit Februar 2006 und auch noch nach ihrem Zuzug habe sie über das Internet für das österreichische Medienunternehmen “O C-GmbH„ als freiberufliche “Cutterin„ ungefähr 18 bis 20 Wochenstunden gearbeitet und monatlich ungefähr 800 Euro verdient. Erst als diese Verdienstmöglichkeit im August und September 2007 versiegte, habe sie Leistungen beantragt.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juni 2008 aufzuheben und den Antragsge...

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