Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage. Interessenabwägung. Asylbewerberleistung. Aufhebung der Leistungsbewilligung. Änderung der Verhältnisse. Analogleistung. Einführung der Regelbedarfsstufe 2 für erwachsene Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften. Anwendbarkeit der Übergangsregelung des § 15 AsylbLG. Verfassungsmäßigkeit. Verpflichtung zur Vorlage ans BVerfG

 

Orientierungssatz

1. Da § 86b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG selbst keinen Maßstab vorgibt, wann die aufschiebende Wirkung anzuordnen ist, ist diese Lücke durch eine entsprechende Anwendung des § 86a Abs 2 Nr 5 SGG zu schließen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl zB LSG Stuttgart vom 16.4.2008 - L 7 AS 1398/08 ER-B = Breith 2008, 1004 = juris RdNr 4). Erforderlich ist mithin eine Interessenabwägung, wobei das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes und das private Suspensivinteresse gegeneinander abzuwägen sind (ständige Senatsrechtsprechung, vgl zB LSG Stuttgart vom 12.4.2006 - L 7 AS 1196/06 ER-B = info also 2006, 132 = juris RdNr 4).

2. Die Übergangsvorschrift des § 15 AsylbLG, wonach für Leistungsberechtigte des AsylbLG, auf die bis zum 21.8.2019 gemäß § 2 Abs 1 AsylbLG das SGB 12 entsprechend anzuwenden war, § 2 AsylbLG in seiner bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden ist, bezieht sich ausschließlich auf die Verlängerung der Vorbezugszeit von 15 auf 18 Monate. Bezüglich der Einführung des § 2 Abs 1 S 4 AsylbLG zum 1.9.2019 hat der Gesetzgeber keine Übergangsvorschrift vorgesehen.

3. Die Fachgerichte sind, wenn sie von der Verfassungswidrigkeit einer Norm überzeugt sind, auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Vorlage nach Art 100 Abs 1 S 1 GG verpflichtet. Sie sind nicht befugt, sich durch die Kreierung eines vom Gesetzgeber nicht geschaffenen Anspruchs aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz zu begeben (so ausdrücklich BVerfG vom 7.11.2005 - 1 BvR 1178/05 = BVerfGK 6, 323 = juris RdNr 11).

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 6. Dezember 2019 aufgehoben, soweit darin die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 4. Oktober 2019 angeordnet worden ist. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2019 wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Zwischen den Beteiligten ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs streitig.

Mit Bescheid vom 1. März 2019 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin und ihrem 2015 geborenen Kind V. ab dem 1. Januar 2019 bis auf Weiteres Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Hierbei legte sie bei der Antragstellerin einen Regelsatz von 424,00 € zugrunde. Mit Änderungsbescheid vom 4. Oktober 2019 änderte der Antragsgegner die Leistungsbewilligung ab dem 1. Oktober 2019 ab und bewilligte hinsichtlich des Regelbedarfs der Antragstellerin nur noch Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 (382,00 € monatlich). Hiergegen erhob die Antragstellerin am 31. Oktober 2019 Widerspruch mit der Begründung, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 lägen bei ihr nicht vor, da sie zwar ihre Wohnung mit einer weiteren (zufälligen) Bewohnerin teilen müsse, sich hieraus jedoch keine Haushaltsgemeinschaft ergebe und auch keine finanziellen Einsparungen. Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sei verfassungswidrig. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2019 half der Antragsgegner dem Widerspruch insoweit ab, als für die Zeit vom 1. bis 31. Oktober 2019 Leistungen in Höhe von 1.216,42 € unter Zugrundelegung eines Regelbedarfs der Antragstellerin von 424,00 € gewährt wurden. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Hiergegen hat die Antragstellerin nach den Angaben ihres Bevollmächtigten am 21. Januar 2020 Klage zum Sozialgericht Freiburg (S 9 AY 241/20) erhoben. Am 27. September 2019 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Freiburg (SG) beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 29. Oktober 2019 gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2019 anzuordnen. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2019 hat das SG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 4. Oktober 2019 angeordnet. Es spreche viel dafür, dass der Bescheid vom 4. Oktober 2019 bereits wegen Verstoßes gegen die Übergangsvorschrift in § 15 AsylbLG rechtswidrig sei. Zudem bestünden gegen § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG gewisse verfassungsrechtliche Bedenken.

Gegen den am 10. Dezember 2019 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 20.Dezember 2019 Beschwerde zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.

II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragsgegners ist auch im Übri...

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