Entscheidungsstichwort (Thema)

Unterlassung einer Streikmaßnahme im einstweiligen Verfügungsverfahren. Strenger Maßstab für einen Abbruch oder eine Unterbrechung einer Streikmaßnahme im einstweiligen Rechtsschutz. Interessenabwägung bei rechtswidrigen Streikmaßnahmen. Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG für die Betätigung der Koalitionen. Einschränkung der Koalitionsbetätigung des Art. 9 Abs. 3 GG. Arbeitskampf für tariflich regelbare Ziele. Erzielung einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung als Streikziel. Angemessenheit von Streikmaßnahmen

 

Leitsatz (amtlich)

Das Streikziel, einen gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien nach § 5 Abs. 1 TVG auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrags zu erreichen, ist jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Antrag auf Unterlassung einer Streikmaßnahme erfordert im einstweiligen Verfügungsverfahren einen Verfügungsanspruch und einen Verfügungsgrund. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung kommt auch im Bereich des Arbeitskampfes in Betracht.

2. Für den heranzuziehenden Prüfungsmaßstab ist zu beachten, dass eine Unterlassungsverfügung, die auf den Abbruch eines laufenden oder unmittelbar bevorstehenden Streiks gerichtet ist, einer Befriedigungsverfügung gleichkommt. Sie nimmt die Hauptsache regelmäßig vorweg. Deshalb ist an den Erlass einer solchen einstweiligen Verfügung ein strenger Maßstab anzulegen.

3. Besteht ein Verfügungsanspruch, hat zur Prüfung, ob eine auf Unterlassung eines Arbeitskampfes gerichtete einstweilige Verfügung im Sinne des § 940 ZPO zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, eine Interessenabwägung stattzufinden, in die sämtliche in Betracht kommenden materiell-rechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Erwägungen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehen sind.

4. Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen.

5. Das Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht uneingeschränkt gewährt. Es kann insbesondere durch andere verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter eingeschränkt werden. Im jeden Fall bedarf es eines verhältnismäßigen Ausgleichs (sog. praktische Konkordanz) beider geschützten Interessen. Zentraler Maßstab für die Beurteilung der Rechtsmäßigkeit eines Streiks ist mithin der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

6. Arbeitskämpfe sind nur rechtmäßig, wenn sie um ein tariflich regelbares Ziel geführt werden. Dies folgt aus der Hilfsfunktion des Arbeitskampfes zur Sicherung der Tarifautonomie. Der Arbeitskampf dient lediglich dazu, einer Tarifforderung Nachdruck zu verleihen, um den Gegner zu einem Tarifabschluss zu bewegen.

7. Das Streikziel "Erreichen der Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge in einer gemeinsamen Initiative" ist ein mögliches Verhandlungsziel. Es ist jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig, es zu erstreiken. Solange nur die Einleitung des Verfahrens, nicht die Allgemeinverbindlicherklärung an sich begehrt wird, steht dies mit Art. 5 Abs. 1 TVG in Einklang.

8. Bei der Angemessenheit von Streikmaßnahmen geht es um eine Wertungsfrage, bei der die kollidierenden Grundrechtspositionen und der Grad ihrer Beeinträchtigung gewichtet und gegen die Bedürfnisse kollektiver Koalitionsbetätigung abgewogen werden müssen. Arbeitskämpfe dürfen nicht auf die Existenzvernichtung der Gegenseite abzielen; vielmehr muss die Arbeit nach Beendigung des Arbeitskampfes fortgeführt werden können. Die Parteien des Arbeitskampfes dürfen zwar versuchen, durch Verursachen wirtschaftlicher Schäden die Gegenseite zum möglichst raschen Abschluss eines Tarifvertrags zu bewegen, sie dürfen aber von diesem Recht nicht objektiv zweckwidrig und rücksichtslos Gebrauch machen.

 

Normenkette

BGB §§ 1004, 823; GG Art. 14, 9 Abs. 3; TVG § 5 Abs. 1; GG Art. 14 Abs. 1; BGB § 823 Abs. 1; TVG § 1 Abs. 1; ZPO § 940; ArbGG § 62 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Nürnberg (Entscheidung vom 13.07.2023; Aktenzeichen 3 Ga 24/23)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Verfügungsbeklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 13.07.2023, Az.: 3 Ga 24/23, abgeändert.

2. Die Klage wird abgewiesen.

3. Die Anschlussberufung der Verfügungsklägerin wird zurückgewiesen.

4. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Verfügungsklägerin.

 

Tatbestand

Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung begehrt die Verfügungsklägerin die Untersagung der Aufforderung zur Arbeitsniederlegung im Betrieb S... ab sofort und für die Dauer der Gehaltstarifverhandlungen sowie die Androhung eines Ordnungsgeldes, ersatzweise Ordnungshaft für den Fall der Zuwiderhandlung.

Die Verfügungsklägerin ist ein Großunternehmen, deren Hauptsitz sich in Rottendorf, E...straße x, xxxxx R... befindet. Der Betrieb in S... gehört zu den in Nordbayern ansässigen und von der Verfügungsklägerin betriebenen Großhandelsbetrieben. Bei der Verfügungsklägerin sind insgesamt ca. 1.950 Arbeitnehmeri...

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