Entscheidungsstichwort (Thema)

Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht. Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen. Kein Mitbestimmungsrecht bei der Überlassung von Dienstwagen zu dienstlichen Zwecken. Entbehrlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung. Umfassende Interessenabwägung vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB

 

Leitsatz (amtlich)

Die private Nutzung einer Tankkarte entgegen den Regelungen einer Dienstwagenrichtlinie kann eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die missbräuchliche Nutzung einer Tankkarte kann einen wichtigen Grund darstellen.

2. Nicht nur eine erhebliche Verletzung der vertraglichen Hauptleistungspflicht, sondern auch die Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten, insbesondere eine Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB, die dem Schutz und der Förderung des Vertragszwecks dient, kann an sich ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung sein.

3. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners zugrunde zu legen sind.

4. Es können nur solche Vorschriften aus Dienstwagenregelungen der zwingenden Mitbestimmung unterliegen, die einen Entgeltcharakter haben. Auf die dienstliche Nutzung von Fahrzeugen trifft dies nicht zu. Die Gewährung von Dienstwagen zu dienstlichen Zwecken ist mitbestimmungsfrei, weil der Arbeitgeber über den Einsatz von Arbeitsmitteln frei entscheiden kann.

5. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder dass es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist.

6. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

7. Die Frist beginnt nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall, sobald er eine zuverlässige und hinreichend vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen will oder nicht.

 

Normenkette

BGB § 626; KSchG § 1; BGB § 241 Abs. 2, § 669; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 10, § 102 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Lingen (Entscheidung vom 13.04.2022; Aktenzeichen 1 Ca 343/21)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Teil-Urteil des Arbeitsgerichts Lingen vom 13. April 2022 - 1 Ca 343/21 - abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 93.536,52 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses.

Die Beklagte ist Hersteller von Landbohranlagen und deren Equipment. Sie beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer. Bei ihr ist ein Betriebsrat gebildet.

Der am 13. Juli 1973 geborene Kläger wurde von der Beklagten zum 1. Januar 2011 eingestellt. Seit dem 1. August 2011 war er als Vice President Sales im Vertrieb tätig und arbeitete aus dem Home-Office heraus. Dem Arbeitsverhältnis lag zuletzt der Arbeitsvertrag vom 2. August 2011 zugrunde (Bl. 6 ff. d. A.). Der Kläger erzielte in den Jahren 2018 bis 2020 ein durchschnittliches Bruttomonatseinkommen in Höhe von 15.589,42 Euro.

Die Beklagte stellte dem Kläger einen Dienstwagen zur Verfügung, den er auch privat nutzen durfte. Seit dem Jahr 2019 handelte es sich dabei um einen BMW 320 d Touring (Diesel) mit einem Tankvolumen von 59 Litern...

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