Entscheidungsstichwort (Thema)

Fristbeginn des § 626 Abs. 2 BGB zum Ausspruch einer fristlosen Kündigung. "Wichtiger Grund" i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Schutz der freien Meinungsäußerung und des Persönlichkeitsrechts für herabwürdigende Äußerungen in einer Chatgruppe

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Kündigungsberechtigte kann nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB zu laufen begänne. Dies gilt allerdings nur so lange, wie er aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchführt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts und der Beweismittel verschaffen sollen.

2. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.

3. Sind herabwürdigende Äußerungen Bestandteil einer vertraulichen Kommunikation zwischen den Teilnehmern einer kleinen Chatgruppe, genießen sie als solche verfassungsrechtlichen Schutz, der dem Schutz der Ehre der durch die Äußerungen betroffenen Personen vorgeht.

 

Normenkette

BGB § 241 Abs. 2, § 626 Abs. 1-2; DSGVO Art. 6 Abs. 1, Art. 9 Abs. 2 Buchst. f); GewO § 106

 

Verfahrensgang

ArbG Hannover (Entscheidung vom 24.02.2022; Aktenzeichen 10 Ca 147/21)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 24.08.2023; Aktenzeichen 2 AZR 17/23)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 24.02.2022 - 10 Ca 147/21 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, Annahmeverzugslohnansprüche und die Erteilung eines Zeugnisses.

Die Beklagte ist ein Luftverkehrsunternehmen mit Sitz in C-Stadt. Zum Zeitpunkt der Kündigung beschäftigte sie ca. 2.100 Arbeitnehmer.

Der Kläger ist 50 Jahre alt, verheiratet und zwei minderjährigen Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Er ist seit dem 00.00.0000 bei der Beklagten zuletzt als Gruppenleiter Lagerlogistik in der Abteilung Material Supply zu einem monatlichen Bruttogehalt in Höhe von 4.268,16 EUR beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis ist nach den anzuwendenden tariflichen Regelungen ordentlich unkündbar.

Im Zuge einer Restrukturierung schlossen die Beklagte, der Kläger und die G.Transfergesellschaft mbH (G.) einen Drei-Parteien-Vertrag, nach dem das Arbeitsverhältnis der Parteien aus dringenden betriebsbedingten Gründen zum 31.12.2021 beendet werden sollte und der Kläger ab dem 01.01.2022 bis zum 31.12.2022 in ein Anstellungsverhältnis mit der G. eintreten sollte. Wegen des Wortlautes des Drei-Parteien-Vertrages wird auf Bl. 4-9 dA. Bezug genommen. Unter dem 18.05.2021 schlossen die Beklagte und der Kläger eine Ergänzungsvereinbarung, nach der dem Kläger zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Anstellungsverhältnisses eine Abfindung in Höhe von 122.765,82 EUR brutto zuzüglich Zusatzleistungen gezahlt werden sollte. Wegen des Wortlautes der Ergänzungsvereinbarung wird auf Bl. 10 und 11 dA. Bezug genommen.

Seit 2014 gehörte der Kläger einer Chat-Gruppe ursprünglich bestehend aus ihm und den Mitarbeitern der Beklagten B., G., G., H. und G. Vom 19.11.2020 bis zum 17.01.2021 gehörte der Gruppe darüber hinaus der ehemalige Mitarbeiter der Beklagten G. an. Die Mitglieder der Gruppe sind untereinander langjährig befreundet, die Mitglieder G. sind Brüder. Unter dem Gruppennamen "H.L.T." tauschten die Mitglieder auf ihren privaten Smartphones über den Messengerdienst WhatsApp Nachrichten aus.

Im Rahmen von Geprächen über einen Arbeitsplatzkonflikt mit dem Mitarbeiter der Beklagten S. zeigte das Gruppenmitglied G. dem Mitarbeiter den Verlauf des WhatsApp-Chats auf seinem Smartphone. Der Mitarbeiter S. kopierte den Chat-Verlauf auf sein eigenes Smartphone. Am 07.07.2021 teilte der Vorsitzende des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrats G. dem Personalleiter L. während dessen Urlaubsabwesenheit das Bestehen der WhatsApp-Gruppe "H. L. T." telefonisch mit und berichtete über den Inhalt des Chats. Im Nachgang zu diesem Gespräch übersandte er ein 316-seitiges Word-Dokument mit dem Inhalt des Chat-Verlaufs für die Zeit vom 19.11.2020 bis 17. Januar 2021. Unter dem 08.07.2021 formulierte der Schwerbehindertenvertreter der Beklagten W. eine Erklärung über die Bestätigung der Richtigkeit des ChatVerlaufs durch den ehemaligen Mitarbeiter G. vor und übersandte sie ihm. Der Mitarbeiter G. sandte die Erklärung unterschrieben zurück. Wegen des Wortlauts der Erklärung wird auf Bl. 226 dA. Bezug genommen. Die Erklärung wurde im Folgenden dem Personalleiter L. zugeleitet. Mit Schreiben vom 22.07.2021 (Bl. 227 R und 228 dA.) hörte die Beklagte den Kläger zu dem Inhalt des Chat-Verlau...

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