Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsänderung. Betriebsrat. Einigungsstellenbesetzungsverfahren. Konstituierung. offensichtliche Unzuständigkeit. Einsetzung einer Einigungsstelle. Zum Maßstab der "offensichtlichen Unzuständigkeit" bei älterer kritisierter höchstrichterlicher Rechtsprechung des BAG. Offensichtliche Unzuständigkeit einer Einigungsstelle zur "Betriebsvereinbarung über einen Sozialplan" bei Antragstellung durch den im Laufe der Betriebsänderung gewählten Betriebsrat. Beurteilung der "offensichtlichen Unzuständigkeit" bei länger zurückliegender höchstrichterlicher Entscheidung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Von einer offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle ist dann auszugehen, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in der fraglichen Angelegenheit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt.

2. Gibt es bei einer Rechtsfrage eine gefestigte und abschließende höchstrichterliche Rechtsprechung, derzufolge dem Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht zusteht, ist davon auszugehen, dass die dazu begehrte Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist; hat das Bundesarbeitsgericht zu einer Rechtsfrage nur vereinzelt oder am Rande Stellung genommen und ist an dieser Rechtsauffassung beachtliche Kritik in der Literatur oder in der Instanzrechtsprechung geäußert worden, kann die Unzuständigkeit der Einigungsstelle nicht als endgültig geklärt angesehen werden.

3. Hat sich das Bundesarbeitsgericht zwar wiederholt zu einer Rechtsfrage geäußert, liegt die letzte inhaltliche Befassung jedoch zeitlich weit zurück und wurde gerade in jüngerer Zeit beachtliche Kritik gegen diese Rechtsprechung erhoben, ist gleichwohl davon auszugehen, dass die dazu begehrte Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist.

4. Vereinzelte Entscheidungen der Instanzgerichte gegen eine mehrfach bestätigte Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts, auch wenn diese 10 Jahre und länger zurückliegt, können nicht zum Anlass genommen werden, den Prüfungsmaßstab der offensichtlichen Unzuständigkeit jeweils neu zu bestimmen; ansonsten könnte jede erstinstanzliche Entscheidung, die eine vom Bundesarbeitsgericht abweichende Rechtsauffassung in sich trägt, den Prüfungsmaßstab der "offensichtlichen Unzuständigkeit" im Sinne von § 98 Abs. 1 Satz 2 ändern, was der Rechtssicherheit abträglich wäre.

5. Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat in der Zeit von 1982 bis 1992 stets erkannt, dass ein erst während der Durchführung der Betriebsänderung gewählter Betriebsrat den Abschluss eines Sozialplans nicht verlangen kann; diese Rechtsprechung hat (wenngleich nur in einem Obiter Dictum) das Bundesarbeitsgericht zuletzt in seiner Entscheidung vom 18.11.2003 (1 AZR 30/03 Rn. 18 = EzA §113 BetrVG 2001 Nr. 2 = NZA 2004, 220) erneut bestätigt.

 

Normenkette

ArbGG 1979 § 98; BetrVG 2001 §§ 111-112; ArbGG § 98 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Hannover (Entscheidung vom 05.10.2012; Aktenzeichen 8 BV 31/12)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin und Beteiligten zu 2) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Hannover vom 05. Oktober 2012 - 8 BV 31/12 - abgeändert.

Die Anträge des Betriebsrates und Beteiligten zu 1) werden insgesamt zurückgewiesen.

 

Gründe

I. Zwischen den Beteiligten ist im zweiten Rechtszug weiterhin im Streit, ob eine Einigungsstelle zu dem Regelungsgegenstand "Abschluss eines Sozialplans über die Betriebsstilllegung zum 31.12.2012" einzurichten ist.

Im Sommer 2012 veräußerten die bisherigen Gesellschafter der Beteiligten zu 2), einem Distributionsunternehmen mit Hauptsitz in A-Stadt, ihre Gesellschaftsanteile an die Firma B. Die dort Beschäftigten wurden darüber in einer Betriebsversammlung vom 08. Juni 2012 in Kenntnis gesetzt. Zu diesem Zeitpunkt war im A-Stadt Betrieb noch kein Betriebsrat gebildet. Drei Arbeitnehmer des Betriebs luden mit Schreiben vom 22. Juni 2012 zu einer Wahlversammlung ein, auf der ein Wahlvorstand zur Einleitung von Betriebsratswahlen gewählt werden sollte.

Die neue Geschäftsführung der Beteiligten zu 2) traf als Ergebnis der Anfang Juli 2012 vorgenommenen Prüfungen und Vorüberlegungen am 16. Juli 2012 die unternehmerische Entscheidung, den Betrieb in A-Stadt spätestens zum 31.Dezember 2012 vollständig und dauerhaft stillzulegen. Dazu heißt es in einem von dem Geschäftsführer C. am 16. Juli 2012 unterschriebenen Protokoll (Blatt 154 f. d. A.):

"Protokoll

Beschluss der Geschäftsführung der

D., als Komplementärin der E.

Ende Mai 2012 hat die B. einen Vertrag über den Erwerb von 100% der Kommanditanteile an der E.. ("E") geschlossen. Closing ist am 2. Juli 2012 erfolgt.

Nach intensiver Prüfung der Geschäfts- und Kostensituation nach Closing wurden verschiedene Optionen unter rechtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten geprüft. Im Hinblick auf die deutlich negative Umsatzentwicklung, den negativen Ausblick für das 2. Jahreshalbjahr 2012 und die teilweise bereits erfolgten Eigenkündigungen von Mitarbe...

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