Entscheidungsstichwort (Thema)

Schuldanerkenntnis. Sittenwidrigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Sittenwidrigkeit eines notariellen Schuldanerkenntnisses, das ein Arbeitnehmer im Hinblick auf ihm von Seiten des Arbeitgebers angelastete Vermögensdelikte abgegeben hat, folgt nicht allein daraus, dass der anerkannte Schaden nicht hätte bewiesen werden können, oder dass der anerkannte Betrag die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Anerkennenden deutlich übersteigt. Vielmehr müssen zusätzliche, dem Gläubiger zuzurechnende Umstände hinzukommen, die zu einem unerträglichen Ungleichgewicht der Vertragsparteien führen

2. Zwar kann ein auffälliges Misssverhältnis zwischen der wahren Ausgangslage und den Leistungen, die der Schuldner übernommen hat, ein solcher, die Sittenwidrigkeit des Schuldanerkenntnisses begründender Umstand sein. Maßgebend hierfür ist aber nicht die fehlende Beweisbarkeit des Schadens, sondern, von welcher Einschätzung die Parteien bei Abgabe des Anerkenntnisses ausgegangen sind und in welchem Ausmaß sie davon abgewichen sind.

 

Normenkette

BGB §§ 123, 138, 779, 781, 812; BDSG § 6b; ZPO § 767

 

Verfahrensgang

ArbG München (Urteil vom 24.10.2007; Aktenzeichen 2b Ca 7669/07 H)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 22.07.2010; Aktenzeichen 8 AZR 144/09)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten und der Streitverkündeten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 24.10.2007 – 2b Ca 7669/07 H – geändert:

Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Die Revision wird für den Kläger zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus einem notariellen Schuldanerkenntnis.

Der Kläger, der nach einer bei der Beklagten absolvierten und am 01.09.1999 begonnenen Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann vom 04.07.2002 bis 24.07.2006 in einem Großmarkt der Beklagten beschäftigt und dabei auch zum Bedienen der Kassen und für die Leergutannahme eingesetzt wurde, unterzeichnete am 24.07.2006 ein notarielles Schuldanerkenntnis, wonach er anerkannte, der Beklagten aufgrund vorsätzlicher unerlaubter Handlungen, die ihn gemäß § 823 Abs. 2 BGB gegenüber der Gläubigerin zum Schadenersatz verpflichteten, einen Betrag in Höhe von Euro 113.750,00 zuzüglich Zinsen in Höhe von ein Prozent über dem Basiszinssatz zu schulden. In der notariellen Urkunde unterwarf er sich wegen dieser Zahlungsverpflichtung einschließlich der Zinsen der sofortigen Zwangsvollstreckung. Vorausgegangen war ein Gespräch zwischen dem Kläger und mehreren Mitarbeitern der Beklagten, darunter der Marktleiter und die damalige Betriebsratsvorsitzende, in dem der Kläger mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, er habe eine Vielzahl von Unterschlagungen begangen, indem er an sich selbst für die angebliche Rückgabe von Leergut durch Kunden, die in Wahrheit nicht stattgefunden habe, entsprechende Pfandbeträge ausgezahlt habe. Diese Behauptung beruhte auf einer Auswertung der Pfandbuchungen des Monats Juni 2006 und einer dreitägigen Videoüberwachung, die von einer Detektei ausgewertet wurde. Laut Mitschnittsbericht dieser Detektei ergab die Addition der erkennbaren Unterschlagungsvorgänge an den genannten drei Tagen einen Gesamtbetrag in Höhe von Euro 1.120,00. Im Verlauf dieses Gesprächs erstellte der Kläger einen handschriftlichen Text, in dem ausgeführt ist, er habe seit ca. vier Jahren an seinem Arbeitsplatz Geld gestohlen (…) und dabei Pfandzettel für Leergut an sich selbst ausbezahlt. Dies habe mit ca. Euro 10,00 am Tag angefangen; nachdem er aber gemerkt habe, dass dies nicht auffalle, habe er immer mehr Geld genommen, tageweise seien das Euro 500,00 bis Euro 600,00 gewesen. Er habe so einen Gesamtschaden von mindestens Euro 110.000,00 innerhalb von vier Jahren verursacht (…). Er sei bereit, den Schaden zu ersetzen (…). Er habe dies freiwillig und ohne Drohung zugegeben und aufgeschrieben. Hierauf fuhren die am Gespräch teilnehmenden Mitarbeiter der Beklagten – bis auf die Betriebsratsvorsitzende – mit dem Kläger und einer Kollegin, der ein gleichartiger Vorwurf gemacht wurde – allerdings mit wesentlich geringeren behaupteten Schadensbeträgen – von dem in einer Gemeinde südöstlich von München gelegenen Großmarkt nach München zum Notar.

Mit Anwaltsschreiben vom 29.12.2006 ließ der Kläger das notarielle Schuldanerkenntnis gemäß § 123 BGB wegen Täuschung und Drohung anfechten und berief sich auf die Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäfts gemäß § 138 Abs. 1 BGB, weil der Kläger sich regelrecht in einer Zwangslage befunden habe, da er alleine und ohne Beistand von insgesamt fünf leitenden Mitarbeitern des Unternehmens „bearbeitet” worden sei, sämtliche Schuld einzugestehen und horrende, völlig unbelegte Schadenersatzansprüche anzuerkennen.

Aus dieser Zwangslage heraus seien die Unterschriftsleistungen des Klägers entstanden. Die Beklagte habe eine Fürsorgepflicht, die es ihr verbiete, einen Mitarbeiter derart zu überrumpeln.

Die Beklagte hat eine Vertrauensschadensversicherung abgeschlossen und vom Ve...

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