Entscheidungsstichwort (Thema)

"Wichtiger Grund" i.S.d. § 626 BGB. Arbeitszeitbetrug als "wichtiger Grund". Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung. Entbehrlichkeit einer Abmahnung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund i.S.d. § 626 BGB geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.

2. Hat der Arbeitnehmer bei Beginn seiner Arbeitszeit elektronisch "eingestempelt", dann jedoch den Betrieb ohne "Ausstempeln" wieder verlassen und nichts unternommen, dieses Fehlverhalten zu korrigieren oder dem Vorgesetzten zu melden, hat er grob gegen seine vertragliche Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 BGB verstoßen. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann dieser Arbeitszeitbetrug eine fristlose oder ordentliche verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen.

3. Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.

4. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder dass es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 1-2; BGB § 241 Abs. 2, § 626 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG München (Entscheidung vom 14.07.2020; Aktenzeichen 18 Ca 1451/19)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 14.07.2020 - 18 Ca 1451/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.

Der am 00.00.0000 geborene und mit einem Grad der Behinderung von 70 schwerbehinderte Kläger ist bei der Beklagten in deren Z seit dem 02.11.2008 beschäftigt, und zwar seit dem 15.02.2018 auf einem Schonarbeitsplatz bei Y zu einer monatlichen Bruttovergütung von 1.927,08 €.

Am Freitag, dem 27.09.2019, war der Kläger zu der um 08:00 Uhr beginnenden Schicht eingeteilt. Der Kläger fuhr mit seinem PKW zur Rastanlage und stempelte um 07:55 Uhr in die elektronische Zeiterfassung ein. Um ca. 08:00 Uhr verließ er ohne Absprache mit den Vorgesetzten und ohne Ausstempeln den Betrieb. Um 08:39 Uhr teilte die Schichtleiterin Frau G. dem Betriebsleiter Herrn S. per E-Mail mit: "Herr ... (der Kläger) ist nicht zu seinem Dienst um 08:00 Uhr erschienen. Nach Angaben von Frau H... X hat er sie in die Arbeit gefahren. Angeblich hat er Probleme mit seinem Auto. Er hat sich weder bei mir abgemeldet noch ist mir bekannt, dass er das anderweitig tat."

Gegen 08:40 Uhr kehrte der Kläger wieder in den Betrieb zurück und stempelte nicht ein. Unter nicht näher bekannten Umständen traf der Kläger auf die Schichtleiterin Frau G. Frau G. erklärte ihm, dass er eine halbe Stunde länger zu arbeiten habe und stellte ihm wegen der verspäteten Arbeitsaufnahme eine Abmahnung über die Betriebsleitung in Aussicht. Der Kläger unterließ es ihr mitzuteilen, dass er bereits um 07:55 Uhr eingestempelt hatte. Tatsächlich arbeitete der Kläger ausweislich der Stundenliste September 2019 (Anlage K3 = Bl. 90 d. A.) am 27.09.2019 statt bis 16:30 Uhr bis 17:00 Uhr (zu diesen Zeitangaben vgl. auch Schriftsatz des Klägers vom 07.07.2020). Als Differenz zwischen Soll- und Iststunden wurde für den 27.09.2019 "0" ausgewiesen (vgl. Anlage K3 = Bl. 90 d. A.).

Nach vorheriger Zustimmung des Inklusionsamts und des Betriebsrats kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger durch Schreiben vom 18.10.2019 außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgemäß zum 29.02.2020.

Mit der rechtzeitig erhobenen Kündigungsschutzklage wendet sich der Kläger gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Er hat das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die außerordentliche Kündigung bzw. die soziale Rechtfertigung der hilfsweisen ordentlichen Kündigung bestritten. Nachdem er während der letzten 100 km der Fahrt bemerkt hätte, dass der rechte Vorderreifen Luft verliere und ein Nagel darin steckte (vgl. Klageschrift, Seite 2), habe er vergeblich die Schichtleiterin versucht zu erreichen, um sich für eine Reifenreparatur abzumelden. Dies habe er schließlich bei den Kollegen X und W getan un...

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