Entscheidungsstichwort (Thema)

Beschäftigungsanspruch. Beschäftigungsanspruch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. Freistellungsrecht. Befriedigungsverfügung. Beschäftigungsverfügung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Arbeitnehmer hat gemäß § 242 BGB – insbesondere auf Grund der Wertentscheidungen der Art. 1, 2 GG über den Persönlichkeitsschutz – grundsätzlich auch nach Ausspruch einer ordentlichen Kündigung Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (allgemeiner Beschäftigungsanspruch).

2. Eine Ausnahme von dem Grundsatz des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs kommt – auch unter Berücksichtigung der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Unternehmerfreiheit – nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber ein das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers überwiegendes, schutzwürdiges Interesse an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers hat.

3. Bei grundrechtskonformer Abwägung der kollidierenden Interessen der Arbeitsvertragsparteien ergibt sich, dass auch eine durch Art. 12. Abs. 1 GG geschützte Unternehmerentscheidung des Inhalts, den Arbeitnehmer allein oder zusammen mit anderen Arbeitnehmern freizustellen, für sich allein nicht ausreicht, den insbesondere durch Art. 1, 2 GG geschützten allgemeinen Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers auszuschließen.

4. Kommt eine Ausnahme von dem allgemeinen Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers in Betracht, so steht dem Arbeitgeber auf der Grundlage des § 242 BGB das besondere arbeitsrechtliche Recht zur Freistellung des Arbeitnehmers zu.

5. Den Ausnahmetatbestand des besonderen arbeitsrechtlichen Freistellungsrechts muss der Arbeitgeber – insbesondere mit Rücksicht auf den Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers durch Art. 1, 2 GG – hinreichend konkret darlegen und im Streitfall beweisen bzw. glaubhaft machen.

6. Das besondere arbeitsrechtliche Freistellungsrecht des Arbeitgebers ist durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz weder eingeschränkt noch ersetzt worden.

7. Der allgemeine Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers kann (allerdings) unabhängig von dem besonderen arbeitsrechtlichen Freistellungsrecht auch nach dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht gemäß § 275 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 BGB ausgeschlossen sein oder ausgeschlossen werden.

8. Ein Verfügungsgrund für eine Befriedigungsverfügung ist nur dann gegeben, wenn die Befriedigungsverfügung mit Rücksicht auf das rechtsstaatliche Gebot effektiven Rechtsschutzes erforderlich ist.

9. Mit Rücksicht auf das rechtsstaatliche Gebot effektiven Rechtsschutzes für beide Arbeitsvertragsparteien kann eine Befriedigungsverfügung in der Regel weder erlassen noch verweigert werden, ohne den Verfügungsanspruch zu prüfen.

10. Ein Verfügungsgrund für eine Beschäftigungsverfügung ist regelmäßig gegeben, wenn der Beschäftigungsanspruch zweifelsfrei besteht und daher auch im Hauptsacheverfahren anerkannt werden müsste (Bestätigung der Kammerurteile vom 19.08.1992 LAGE BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 32 = NZA 1993, 1130; 18.09.2002 LAGE § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 45 = NZA-RR 2003, 269).

 

Normenkette

GG Art. 1-2, 12 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; BGB §§ 242, 275, 611; ZPO § 940

 

Verfahrensgang

ArbG München (Urteil vom 27.02.2003; Aktenzeichen 23 Ga 72/03)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen dasUrteil desArbeitsgerichts München vom27.02.2003 – 23 Ga 72/03 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren über den Anspruch des Klägers auf vertragsgemäße Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist.

Die Beklagte ist ein Elektrotechnikunternehmen, das in M. vier Betriebe unterhält. In dem Betrieb M. sind zurzeit (noch) etwa 5.600 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communicaton Networks (ICN) und etwa 1.700 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communication Mobile (ICM) beschäftigt.

Wegen eines erheblichen Auftrags- und Umsatzrückgangs beschloss der ICN-Bereichsvorstand im Juli bzw. September 2002, die Personalkapazität an den Bedarf anzupassen und das so genannte Carrier-Geschäft (mit Telefonanlagen und -systemen für Telefongesellschaften im Festnetzbereich) neu zu organisieren.

Diesbezüglich vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat Mch H den Interessenausgleich „Kapazitätsanpassung ICN M. H 2002 und Neuausrichtung des ICN-Carrier-Geschäfts” vom 23.10.2002. Gemäß Nr. 3.1 dieses Interessenausgleichs wurde „mit Wirkung zum 01.11.2002” die „neue ICN Carrier-Organisation eingeführt” und gemäß Nr. 4.3 sollten 1.100 Arbeitnehmer „– so weit möglich – einvernehmlich … ausscheiden” und dementsprechend „höchstens 1.100 betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen” werden.

Auf der Grundlage dieses Interessenausgleichs kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 15.01.2003 im Geschäftsbereich ICN – gegen den Widerspruch des Betriebsrats – insgesamt 154 Arbeitnehmern, die sie alle „ab sofort” unter Fortzahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung bis zum Ablauf der jeweiligen Kündigungsfrist freistellte.

Der am 16.11.1963 gebo...

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