Entscheidungsstichwort (Thema)

Ordnungsgemäße Anhörung der Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch einer Kündigung gem. § 178 Abs. 2 SGB IX. Unwirksame Anhörung nach § 178 Abs. 2 SGB IX bei Übersendung einer Kopie des Unterrichtungsschreibens für den Personalrat an die Schwerbehindertenvertretung

 

Leitsatz (amtlich)

Für eine Anhörung der Schwerbehindertenvertretung zur Kündigung einer schwerbehinderten Arbeitnehmerin genügt es regelmäßig nicht, der Schwerbehindertenvertretung lediglich das an den Personalrat bzw. Betriebsrat gerichtete Anhörungsschreiben zur Kenntnisnahme zuzuleiten.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Arbeitgeber hört die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß an, wenn er sie ausreichend unterrichtet und ihr genügend Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. Die Unterrichtung muss die Schwerbehindertenvertretung in die Lage versetzen, auf die Willensbildung des Arbeitgebers einzuwirken. Der Arbeitgeber muss den Sachverhalt, den er zum Anlass für die Kündigung nehmen will, so umfassend beschreiben, dass sich die Schwerbehindertenvertretung ohne zusätzliche eigene Nachforschungen ein Bild über die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe machen und beurteilen kann, ob es sinnvoll ist, Bedenken zu erheben.

2. Lässt sich aus dem Unterrichtungsschreiben an den Personalrat weder nach Wortlaut noch Sinn und Zweck entnehmen, dass die Schwerbehindertenvertretung Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Kündigung erhält und ein eigenständiges Beteiligungsverfahren gegenüber der Schwerbehindertenvertretung eingeleitet werden soll, kann die Schwerbehindertenvertretung daraus nicht entnehmen, dass sie hiermit die Möglichkeit erhält, sich zur beabsichtigten Kündigung des Arbeitnehmers zu äußern.

 

Normenkette

SGB IX § 178 Abs. 2; PersVG MV § 62; BGB §§ 138, 242; BetrVG § 102

 

Verfahrensgang

ArbG Rostock (Entscheidung vom 30.06.2022; Aktenzeichen 1 Ca 322/22)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rostock vom 30.06.2022 - 1 Ca 322/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung in der Wartezeit, insbesondere über die ordnungsgemäße Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung.

Die 1985 geborene Klägerin, die über eine abgeschlossene Ausbildung zur Fachangestellten für Bürokommunikation verfügt, nahm am 01.09.2021 bei der beklagten Stadt eine Vollzeitbeschäftigung im allgemeinen Verwaltungsdienst auf. Laut Arbeitsvertrag vom 30.07.2021 bestimmt sich das Arbeitsverhältnis nach der durchgeschriebenen Fassung des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst für die Verwaltung (TVöD-V) und den ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) jeweils geltenden Fassung. Die Beklagte übertrug der Klägerin die Aufgaben der Assistenz- und Vorzimmerkraft des Amtsleiters im Amt für Mobilität. Die Klägerin erhielt die Vergütung der Entgeltgruppe 5 TVöD-V zuzüglich einer Zulage. Das Versorgungsamt B. erkannte ihr befristet für den Zeitraum vom 26.02.2019 bis 31.10.2022 einen Grad der Behinderung von 50 zu.

Seit dem 01.12.2021 ist die Klägerin durchgängig arbeitsunfähig.

Mit Schreiben vom 08.02.2022 beantragte die Beklagte beim Personalrat die Zustimmung zu der beabsichtigten ordentlichen Kündigung der Klägerin. Sie teilte dem Personalrat die Sozialdaten der Klägerin mit (Geburtsdatum, Beginn der Beschäftigung, Tätigkeit, Eingruppierung, Familienstand, Schwerbehinderung) sowie die in Aussicht genommene Kündigungsfrist. Zur Begründung der Kündigung verwies sie auf die bei der Klägerin aufgetretenen Schwierigkeiten mit der selbstständigen Koordinierung der Vorgänge zwischen den Fachbereichen und bei dem effizienten Aufbau des Sekretariats sowie daraus folgend die nach Einschätzung des unmittelbaren Vorgesetzten bislang nicht feststellbare fachliche Eignung der Klägerin.

Der Schwerbehindertenvertretung übersandte die Beklagte dieses Schreiben an den Personalrat mit dem folgenden, ebenfalls auf den 08.02.2022 datierten Anschreiben:

"...

Ihre Mitbestimmung gemäß § 68 Abs. 1 Nr. 2 Personalvertretungsgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 24. Februar 1993

Antrag auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung von Frau ..., Vorzimmerkraft im Amt für Mobilität innerhalb der Probezeit mit einer Kündigungsfrist von zwei Wochen zum Monatsschluss

Sehr geehrter Herr J.,

als Anlage erhalten Sie eine Kopie des Schreibens an den Personalrat der Stadtverwaltung.

Mit freundlichen Grüßen

..."

Der Personalrat stimmte der Kündigung in seiner Sitzung am 16.02.2022, an der auch der Schwerbehindertenvertreter teilnahm, nicht zu. Zur Begründung verwies der Personalrat in seinem Schreiben vom 17.02.2022 auf die seiner Ansicht nach nicht rechtzeitige Einbindung der Schwerbehindertenvertretung und regte eine Verlängerung der Probezeit an, insbesondere im Hinblick auf die positive Einschätzung der Klägerin im Bewerbungsverfahren im Vergleich zu andere...

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