Entscheidungsstichwort (Thema)

Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Konkreter Verdacht des Arbeitszeitbetrugs als wichtiger Grund. Umfassende Interessenabwägung bei einer fristlosen Kündigung. Entbehrlichkeit einer Abmahnung

 

Leitsatz (amtlich)

Einzelfall zur Verdachtskündigung bei fehlerhafter Dokumentation der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmerin.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.

2. Die falsche Eintragung von Arbeitszeiten in der Arbeitszeitdokumentation und die danach geäußerten Unwahrheiten zur Vertuschung dieses Verhaltens lassen einen besonderen Vertrauensverlust entstehen, der eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann.

3. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen.

4. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder dass es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich ausgeschlossen ist.

 

Normenkette

BGB § 626; StGB § 263; ZPO § 138

 

Verfahrensgang

ArbG Siegburg (Entscheidung vom 25.08.2021; Aktenzeichen 4 Ca 2139/20)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 25.08.2021 - 4 Ca 2139/20 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten der Berufung hat die Klägerin zu tragen.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung, die die Beklagte mit der Begründung ausgesprochen hatte, die Klägerin stehe zumindest in dringendem Verdacht, sie habe im Zeiterfassungssystem vorsätzlich falsche Zeiten eingetragen.

Die Klägerin ist 38 Jahre alt. Sie war seit dem 09.08.2006 bei der Beklagten als Sachbearbeiterin in der Finanzbuchhaltung beschäftigt. Zuletzt erhielt sie monatlich ein Bruttoentgelt in Höhe von 3.682,00 EUR. Im Betrieb der Beklagten sind regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt.

Bevor es zu der hier streitigen Kündigung kam, hatte die Beklagte schon mit zwei Kündigungserklärungen vom 20.08.2019 und vom 28.05.2020 versucht, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Beide Kündigungen waren von der Beklagten mit dem Vortrag begründet worden, die Klägerin habe sich beharrlich geweigert, rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen. Beide Kündigungen wurden vom Arbeitsgericht Siegburg für unwirksam erachtet. Seit dem 20.08.2019 hat die Klägerin im Betrieb der Beklagten keine Tätigkeit mehr entfaltet.

Im Unternehmen der Beklagten erfolgt die Zeiterfassung durch Stempelkarten. Gleichzeitig ist den Beschäftigten die Möglichkeit eröffnet, die Arbeitszeit durch ein elektronisches Zeiterfassungssystem zu dokumentieren. Mit Schreiben vom 28.08.2019 (Bl. 41) erteilte die Beklagte der Klägerin eine Abmahnung mit dem Vorwurf, die Klägerin habe am 05.08.2019 und am 06.08.2019 keine Zeiterfassung vorgenommen. Daraufhin teilte die Klägerin ihrem Vorgesetzten die Zeit ihres Kommens für die beiden Tage für eine manuelle Nachtragung mit, nämlich für den 05.08.2019 mit 9:15 Uhr und für den 06.08.2019 mit 9:18 Uhr.

Für den 19.08.2019 trug die Klägerin selbst die Zeit ihres Kommens manuell mit 9:15 Uhr ein. An diesem Morgen war die Klägerin von einer privaten Reise vom Flughafen gekommen. Das Taxiunternehmen, mit dem sie vom Flughafen zum Arbeitsplatz gefahren war, ist das Taxiunternehmen, mit dem die Beklagte einen Rahmenvertrag abgeschlossen hatte. Irrtümlich sandte das Taxiunternehmen die Rechnung an die Beklagte. Tatsächlich hat die Klägerin die Taxifahrt aber selbst bezahlt. Aus der Taxirechnung ergab sich allerdings für die Beklagte eine Ankunftszeit, die mit der nachgetragenen Arbeits-Anfangszeit nicht in Einklang zu bringen war. Nach dieser Rechnung ist die Klägerin nämlich mit dem Taxi an ihrer Arbeitsstelle in W um 9:35 Uhr eingetroffen - also gerade nicht um 9:15 Uhr. Eine vom besagten Taxiunternehmen der Beklagte zur Verfügung gestellte Parkquittung (Anlage B 20, Bl. 151 d.A.) weist für den 19.08.2019 den Zeitpunkt 8:13 Uhr als Parkzeitende am Flughafen D aus.

Nachdem die Beklagte zuvor beim Arbeitsgericht mit ihrem Versuch gescheitert war, die in den Jahren 2019 und 2020 ausgesprochenen Kündigungen mit dem Vortrag zu begründen, die Klägerin komme regelmäßig zu spät zur Arbeit, stützt sie nun die hier st...

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