Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung. Sozialauswahl ohne Punktetabelle. Indizwirkung anerkannter Punktetabelle. Dominotheorie. Wertungsspielraum

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einer betriebsbedingten Kündigung hat der Arbeitgeber nach dem Gesetzeswortlaut (§ 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG) die sozialen Gesichtspunkte „ausreichend” zu berücksichtigen. Dem Arbeitgeber steht bei der Gewichtung der Sozialkriterien deshalb ein Wertungsspielraum zu (BAG 05.12.2002 – 2 AZR 549/01 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 59).

2. Hat der Arbeitgeber die Sozialauswahl ohne eine Punktetabelle durchgeführt, führt deren Überprüfung anhand von anderweitig anerkannten Punktetabellen nicht zu einer unzulässig nachträglichen, fiktiven Sozialauswahl. Eine solche Kontrollüberlegung kann vielmehr ein taugliches Indiz dafür sein, ob die tatsächlich vorgenommene Auswahl noch ausreichend ist, es ist für sich allein freilich noch nicht hinreichend. Hinzukommen muss die Bewertung der Sozialdaten der konkret konkurrierenden Arbeitnehmer.

3.

  1. Bei der Frage, ob die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte nicht mehr ausreichend ist, kommt es im Rahmen der Anwendung eines Punktesystems nicht auf einen absoluten Punktabstand oder eine prozentuale Abweichung allein, gemessen an dem im Auswahlkreis insgesamt vergebenen, höchsten Punktwert an. Denn der absolute Punktwert der Differenz wie auch der entsprechende Prozentwert ist nicht hinreichend aussagekräftig.
  2. Bei Anwendung einer Punktetabelle ist der klagende Arbeitnehmer jeweils mit den von ihm als sozial weniger schutzwürdig genannten, in der konkreten Auswahlsituation konkurrierenden Mitarbeitern in ein Verhältnis zu setzen. Nur um die Differenz dieser Arbeitnehmer bei den Sozialkriterien geht es. Soll die Punktedifferenz prozentual ausgedrückt werden, ist dabei der die Fehlerhaftigkeit der Auswahl rügende Arbeitnehmer mit seinem Punktwert gleich 100 zu setzen und die absolute Differenz zu dem jeweiligen Konkurrenten als prozentualer Anteil zu berechnen.
  3. Jedenfalls bei einer ohne eine Punktetabelle durchgeführten Sozialauswahl bedarf es bei einer als nachträgliche Kontrolle hinzugezogenen Punktetabelle einer anschließenden Bewertung der konkreten Sozialdaten. Im Streitfall war eine Differenz zu Lasten des Klägers von etwa 10 % in Verbindung mit der Betrachtung der konkreten Sozialdaten für die Annahme hinreichend, die Auswahl sei nicht mehr ausreichend.

4. Es liegt nahe, dass der Arbeitgeber sich auch in Fällen der „Massenkündigung”, in denen er die Sozialauswahl ohne Anwendung einer Punktetabelle durchgeführt hat, darauf berufen darf, bei ausreichender Sozialauswahl wäre dem klagenden Arbeitnehmer ebenfalls gekündigt worden.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 3 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Bochum (Urteil vom 01.04.2008; Aktenzeichen 2 Ca 32/08)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 01.04.2008, Az. 2 Ca 32/08 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses und einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung.

Der am 18.11.1973 geborene, seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau und 3 Kindern unterhaltsverpflichtete Kläger ist seit dem 01.09.1997 bei der Beklagten, die im Dezember 2007 ca. 150 Arbeitnehmer beschäftigte, zu einem Bruttomonatslohn von durchschnittlich 2.800,00 EUR bei einer vereinbarten Arbeitszeit von 37,5 Stunden pro Woche als Chemiewerker, zuletzt unter Einreihung in die tarifliche Entgeltgruppe E 2, beschäftigt.

Dem Arbeitsverhältnis liegt der Arbeitsvertrag vom 25.08.1997 zu Grunde. Dieser lautet auszugsweise:

01. Der/die Mitarbeiter/in wird ab 1.9.97 als Werker eingestellt.

02. Der/die Mitarbeiter/in ist verpflichtet, nach näherer Weisung der Firma auch andere zumutbare Tätigkeiten zu übernehmen und dabei in sämtlichen Abteilungen sowie in jeder der betrieblich praktizierten arbeitszeitformen (Normal- oder Wechselschicht) zu arbeiten, auch wenn damit ein Wechsel von Zeit- in Leistungslohn (oder umgekehrt) oder in ein anderes Leistungsvergütungssystem verbunden ist. Ein Anspruch auf einen bestimmten Arbeitsplatz besteht nicht.

23 Im Übrigen gelten die für das Bundesgebiet und Nordrhein-Westfalen vereinbarten Tarifverträge der chemischen Industrie in ihrer jeweiligen Fassung.

Mit Schreiben vom 13.12.2007 hörte die Beklagte den Betriebsrat unter Bezugnahme auf eine Sozialdatenliste, welche für den Kläger 2 Kinder angibt, zu einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung des Klägers an. In dem Anhörungsschreiben selbst teilte sie die zutreffende Kinderzahl des Klägers von drei, sein jüngstes Kind wurde im Sommer 2007 geboren, mit. Auf den weiteren Inhalt des Anhörungsschreibens (Bl. 97 ff. d. A.) wird verwiesen.

In der Serienproduktion beschäftigte die Beklagte in den Bereichen Serie, Vlies und Folie (Schwerschicht) als Chemiewerker unter anderem folgende Arbeitnehmer mit folgenden, aus der dem Betriebsrat mitgeteilten Liste ersichtlichen So...

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