Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche und ordentliche Kündigung einer Kassiererin eines Getränkemarkts. Entnahme von Geldern aus einer sogenannten Klüngelgeldkasse. Verdachtskündigung. heimliche Videoaufnahme. Zulässigkeit. Verwertungsverbot. Interessenabwägung. Betriebsratsanhärung. Annahmeverzug

 

Leitsatz (amtlich)

Die Verwertung heimlicher Videoaufnahmen von öffentlich zugänglichen Räumen – etwa vom Kassenbereich eines Getränkemarktes – kann im Kündigungsschutzprozess in verfassungskonformer Einschränkung des § 6 b Abs. 2 BDSG zulässig sein, wenn sich der Arbeitgeber in einer notwehrähnlichen Lage befindet und die heimliche Videoüberwachung nicht unverhältnismäßig ist.

 

Normenkette

BGB § 626; KSchG § 1 Abs. 2; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 6, § 102; BDSG § 6b; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; BGB § 615

 

Verfahrensgang

ArbG Bielefeld (Urteil vom 29.06.2010; Aktenzeichen 1 Ca 2998/09)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 21.11.2013; Aktenzeichen 2 AZR 797/11)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 29.06.2010 – 1 Ca 2998/09 – teilweise abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 11.09.2009 nicht beendet worden ist.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.531,82 EUR brutto nebst 5 % Punkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank aus 840,02 EUR seit dem 01.10.2009, aus weiteren 1.406,92 EUR seit dem 01.11.2009, aus weiteren 1.657,20 EUR seit dem 01.12.2009, aus weiteren 1.406,92 EUR seit dem 01.01.2010, aus weiteren 1.406,92 EUR seit dem 01.02.2010, aus weiteren 1.406,92 seit dem 01.03.2010 und aus weiteren 1.406,92 EUR seit dem 01.04.2010 abzüglich von der Agentur für Arbeit am 02.10.2009 gezahlter 463,02 EUR netto und abzüglich weiterer von der Agentur für Arbeit am 30.10.2009, am 30.11.2009, am 30.12.2009, am 29.01.2010, am 26.02.2010 und am 31.03.2010 jeweils gezahlter 731,10 EUR netto zu zahlen.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Warengutschein über 275,00 EUR auszustellen und der Klägerin diesen Warengutschein auszuhändigen.

Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin 1/2, die Beklagte 1/2 zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen und ordentlichen Kündigung. Darüber hinaus begehrt die Klägerin Weiterbeschäftigung bei der Beklagten, die Zahlung rückständiger Arbeitsentgelte, die Aushändigung eines Warengutscheines und die Erteilung eines Zeugnisses.

Die am 28.07.1967 geborene Klägerin ist ledig und einem Kind unterhaltsverpflichtet. Aufgrund eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 05.09.1991 (Bl. 7 d.A.) ist sie seit dem 01.10.1991 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin, die mehr als 100 Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden beschäftigt, als Kassiererin im Einkaufsmarkt der Beklagten in G1 tätig. Der Einkaufsmarkt der Beklagten besteht aus einem Warenhaus, einem Getränkemarkt, einem Technikmarkt und einer Tankstelle. Seit etwa 2005 war die Klägerin als Kassiererin im Getränkemarkt, in dem sich drei Kassen befinden, zuletzt mit einer monatlichen Stundenzahl von 108,25 und einem Bruttoentgelt von 1.406,92 EUR eingesetzt. An einer der drei Kassen im Getränkemarkt befindet sich die Kasse für die Leergutannahme. Insgesamt sind im Getränkemarkt etwa zehn Kassierer/innen tätig.

In der Niederlassung G1 ist ein Betriebsrat gewählt, der aus sieben Personen besteht.

Im Einkaufsmarkt in G1 ist eine ständige Videokamera eingerichtet, die den Geschäftsbetrieb über die gesamten Kassenbereiche sowie über den Ein- und Ausgangsbereich überwacht. Diese Überwachung dient dazu, rechtzeitig Kassenstaus erkennen zu können. Mittels dieser Videokamera können Details an den einzelnen Kassen nicht erkannt werden. Die Einrichtung dieser ständigen Videokamera ist allen Mitarbeitern bekannt.

Im Betrieb der Beklagten existieren Kassenanweisungen, die den Kassierern/Kassiererinnen ausgehändigt werden. Hiernach ist es u.a. untersagt, Bargeld in der Dienstkleidung oder im Schubfach des Kassentisches aufzubewahren. Die Herausgabe zusätzlichen Wechselgeldes hat durch die Marktleitung zu erfolgen. Den Kassierern/Kassiererinnen ist es untersagt, Geld aus der Kasse zu entnehmen oder es sich leihweise selbst oder anderen zur Verfügung zu stellen. In den Schubfächern der Kassen darf nach Geschäftsschluss kein Geld aufbewahrt werden. Wechselgeld ist der Marktleitung zu übergeben. Geldwechselgeschäfte mit dem Kunden oder anderen Kassenkräften sind untersagt. In Ziffer 33 der Kassenanweisungen (Bl. 33 ff., 282 ff., 286 ff. d.A.) ist ausdrücklich festgehalten, dass Geldbeträge, die vom Kunden liegengelassen wurden, sofort der Marktleitung ausgehändigt werden müssen, damit es im Büro/Tresor deponiert werden kann.

Auf die weiteren Bestimmungen der Kassenanweisungen (Bl. 33 ff., 282 ff., 286 ff. d.A.) wird ...

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