Entscheidungsstichwort (Thema)

Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Beleidigungen als "wichtiger Grund" i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Annahme der Vertraulichkeit eines Vier-Augen-Gesprächs als Wertungsmaßstab für Verletzung vertraglicher Nebenpflichten. Allgemeines Persönlichkeitsrecht und prozessuale Verwertung beleidigender Äußerungen im Kündigungsschutzprozess. Keine Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG für Formalbeleidigungen und Schmähkritik im Arbeitsverhältnis

 

Leitsatz (amtlich)

1. Grob ehrverletzende, diffamierende und von erheblicher Missachtung der Person geprägte Äußerungen über Vorgesetzte oder Kollegen in einem Vier-Augen-Gespräch am Arbeitsplatz können die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen, wenn der Arbeitnehmer nach den Umständen und dem Inhalt des Gesprächs im Einzelfall nicht davon ausgehen kann, dass seine Äußerungen als vertraulich eingeordnet und behandelt werden.

2. Fehlt es danach an einer begründeten Vertraulichkeitserwartung, steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG der Berücksichtigung dieser Äußerungen als Kündigungsgrund und deren Verwertung im Kündigungsschutzprozess nicht entgegen.

3. In einem Kontext mit dem Arbeitsverhältnis über Vorgesetzte oder Kollegen geäußerte Schmähkritik und Formalbeleidigungen am Arbeitsplatz sind vom Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG nicht umfasst.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.

2. Grobe Beleidigungen, aber auch sonstige ehrverletzende Äußerungen zum Nachteil des Arbeitgebers, seiner Repräsentanten oder von Arbeitskollegen können ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB sein. Dies gilt auch dann, wenn derartige Äußerungen nicht gegenüber dem Betroffenen bzw. Adressaten der Beleidigung selbst, sondern in Kollegengesprächen gegenüber Dritten getätigt werden.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1, § 241 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1; BGB § 626 Abs. 2; BetrVG § 102 Abs. 1 S. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Iserlohn (Entscheidung vom 02.03.2022; Aktenzeichen 3 Ca 1512/21)

 

Tenor

  1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn vom 2. März 2022 - 3 Ca 1512/21 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten in zweiter Instanz weiter über die Wirksamkeit einer außerordentlich-fristlosen, hilfsweise ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung.

Der am 22. Februar "0000" geborene, unverheiratete und nicht gegenüber Kindern unterhaltspflichtige Kläger war seit dem 1. Juni 2011 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Elektroindustrie mit rund 1150 Beschäftigten, als Packer und Kommissionierer gegen ein tarifliches Monatsentgelt in Höhe von zuletzt 2.855,81 € brutto beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis lag der schriftliche Arbeitsvertrag vom 20. Mai 2011 nebst diesem anliegender Arbeitsbedingungen zugrunde (Bl. 22 ff d. A.), auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird. Der Einsatz erfolgte am Standort A, für den ein Betriebsrat gewählt ist, in der dortigen Abteilung LA2/Logistik.

Mit Schreiben vom 16. Oktober 2019 (Bl. 115/116 d. A.) ermahnte die Beklagte den Kläger wegen seines aggressiv wirkendenden Auftretens nebst begleitend unangemessenen Tonfalls gegenüber dem Schichtleiter B. in der Schicht vom 9. Oktober 2019, als dieser dem Kläger bestimmte Arbeiten zuweisen wollte. Hier wurde der Kläger dazu aufgefordert, sich künftig respektvoll und kollegial im Umgang mit Arbeitskollegen und Führungskräften zu verhalten, Meinungsverschiedenheiten und Unstimmigkeiten auf sachlicher Ebene zu klären sowie den Arbeitsanweisungen seiner Vorgesetzten Folge zu leisten. Unter gleichem Datum erhielt der Kläger zudem eine schriftliche Abmahnung (Bl. 117 d. A.). Dort wird dem Kläger vorgehalten, nach der in der Ermahnung angesprochenen verbalen Auseinandersetzung mit dem Schichtleiter B. eine Entsorgungskiste auf eine mit Produkten bestückte Palette geworfen zu haben, was als solches unstreitig blieb.

Eine weitere, dem Kläger unmittelbar ausgehändigte Abmahnung datiert auf den 4. März 2021 (Bl. 119/120 d. A.). Gegenstand dieser Abmahnung sind unstreitige Äußerungen des Klägers, die am 17. Februar 2021 in einem Klärungsgespräch nach Schichtende fielen. Dieses hatte seinen Anlass in Differenzen zwischen dem Kläger und seinem unmittelbaren Vorgesetzen C. während der vorausgehenden Schicht, wobei der Schichtleiter D. nun hinzugezogen wurde. Hier bezeichnete der Kläger den Vorgesetzen C. als "Arschlecker von E.", gemeint war der weitere Schichtleiter B., und drohte diesem mit dem Worten: "Wir können auch nach drau...

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