Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsstilllegung als dringender betriebsbedingter Kündigungsgrund. Kündigungsrecht des Insolvenzverwalters. Örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit für die Massenentlassungsanzeige. Notwendiger Inhalt der Massenentlassungsanzeige

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Stilllegung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils durch den Arbeitgeber gehört zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Unter Betriebsstilllegung ist die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft unter Aufgabe der wirtschaftlichen Betätigung zu verstehen.

2. Nach § 113 Satz 1 InsO kann ein Dienstverhältnis vom Insolvenzverwalter ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung gekündigt werden. Das Kündigungsrecht kann nicht durch einzelvertragliche, tarifvertragliche oder sonstige kollektivrechtliche Vereinbarung ausgeschlossen werden. Tarifvertraglich unkündbare Arbeitsverhältnisse sind daher im Insolvenzverfahren ordentlich kündbar.

3. Ausgangspunkt für die Frage der örtlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit kann nur der Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige sein. Sie soll helfen, die sozio-ökonomischen Auswirkungen von Massenentlassungen dort zu mildern, wo sie typischerweise auftreten.

4. Enthält die Massenentlassungsanzeige die nach § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG geforderten sog. "Muss-Angaben", ist sie wirksam. Fehlende "Soll-Angaben" führen nicht ihrer Unwirksamkeit.

 

Normenkette

RL 98/59/EG (MERL) v. 20.07.1998 Art. 3 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2, § 17 Abs. 1, 3; BGB § 134; InsO § 113 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 19.05.2021; Aktenzeichen 3 Ca 5254/20)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 19.05.2021 - 3 Ca 5254/20 - wird zurückgewiesen.

  • II.

    Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

  • III.

    Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die betriebsbedingte Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses.

Der Beklagte ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der Air M. PLC & Co. Luftverkehrs KG (iF.: Schuldnerin). Die am 17.03.1965 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete klagende Partei ist seit dem 08.08.1994 bei der Schuldnerin bzw. ihrer Rechtsvorgängerin beschäftigt. Sie war tätig als Kapitän und verdiente zuletzt monatlich durchschnittlich EUR 19.593,99 brutto. Sie war auf dem dienstlichen Einsatzort A. stationiert. Auf das Arbeitsverhältnis findet ua. der MTV Nr. 11 Kabinenpersonal LTU Anwendung, der in § 50 Abs. 3 nach Vollendung des 50. Lebensjahres und mindestens 15 Jahren Beschäftigungszeit nur noch eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zulässt.

Bei der Schuldnerin handelte es sich um eine Fluggesellschaft mit Sitz in M. und Stationen an verschiedenen Flughäfen. Die Schuldnerin beschäftigte mit Stand August 2017 mehr als 6.000 Arbeitnehmer im Cockpit, in der Kabine und am Boden.

Für das Cockpitpersonal der Schuldnerin war gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG durch Abschluss des "Tarifvertrags Personalvertretung (TV PV) für das Cockpitpersonal der Air M. PLC & Co. Luftverkehrs KG" (iF.: TV PV Cockpit) eine Personalvertretung (iF.: PV Cockpit) gebildet. Für das Kabinenpersonal wurde durch den "Tarifvertrag Personalvertretung (iF.: TV PV Kabine) für das Kabinenpersonal der Air M. PLC & Co. Luftverkehrs KG" die Personalvertretung Kabine (iF.: PV Kabine) errichtet. Beide Gremien hatten ihren Sitz in M.. Das Bodenpersonal vertraten die regional zuständigen Betriebsräte (Boden Nord, West und Süd) und der Gesamtbetriebsrat. § 74 TV PV Kabine und TV PV Cockpit sehen die Anhörung der PV Kabine bzw. der PV Cockpit vor Ausspruch einer beabsichtigten Kündigung vor.

Die Schuldnerin bediente im Linienflugverkehr Ziele in Europa, Nordafrika, Israel sowie in Nord- und Mittelamerika und unterhielt Stationen an den Flughäfen M.-U., A., N., G., T., I., L., Q., O. und M.. Die Langstreckenflüge wurden in erster Linie von den Drehkreuzen in M.-U. und A. aus durchgeführt.

Das fliegende Personal trat am sog. Stationierungsort (home base bzw. Heimatbasis) seinen Dienst an und beendete ihn dort. Soweit Personal auf Flügen von anderen Flughäfen als dem vereinbarten Dienstort eingesetzt wurde, erfolgte dies in Form des sog. proceeding. Das Personal fand sich dabei zunächst am Dienstort ein und wurde von dort zum Einsatzflughafen gebracht.

In M. war der Leiter des Flugbetriebs ("Head of Flight Operations") ansässig. Diesem oblag die gesamte Leitung des Flugbetriebs im operativen Geschäft. Ihm unterstellt waren ua. die Abteilungen Cabin Crew sowie Crew Operations. Die Einsatzplanung für das Kabinenpersonal wurde seit Mitte 2017 in M. für den gesamten Flugbetrieb erstellt (Crew Planning). Dies umfasste die Urlaubsplanung und die Planung der Kabinencrew-Ver...

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