Entscheidungsstichwort (Thema)

Massenentlassungen im Bereich der Fluggastabfertigung. Unwirksame Massenentlassungsanzeige bei unterlassenem Verhandlungsangebot. Berücksichtigung von Unwirksamkeitsgründen einer Kündigung von Amts wegen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unwirksamkeitsgründe einer Kündigung sind unabhängig von einer Rüge des Arbeitnehmers auch von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn sie sich aus einem Vortrag des Arbeitgebers oder eingereichten Unterlagen ergeben. Dies gilt auch dann, wenn das Arbeitsgericht zuvor einen Hinweis nach § 6 KSchG gegeben hat.

2. Verhandlungen in der Einigungsstelle gemäß § 111 S. 1 BetrVG sind keine Beratungen im Sinne von § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG.

 

Normenkette

KSchG § 17 Abs. 2 S. 2, § Abs. 3; BGB § 134; BetrVG § 111 S. 1; KSchG § 17 Abs. 2 Sätze 1, 1 Nr. 1; BetrVG § 76

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 01.10.2015; Aktenzeichen 57 Ca 3172/15)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 22.09.2016; Aktenzeichen 2 AZR 276/16)

 

Tenor

I. Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 01.10.2015 - 57 Ca 3172/15 - wird teilweise abgeändert:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristgerechte Kündigung der Beklagten vom 13.02.2015 nicht aufgelöst worden ist.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristgerechte Kündigung der Beklagten vom 15.07.2015 nicht aufgelöst worden ist.

II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

III. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier betriebsbedingter Kündigungen vom 13. Februar 2015 und 15. Juli 2015 wegen Betriebsstilllegung sowie hilfsweise über die Zahlung eines Nachteilsausgleichs.

1.

Die am .... 1954 geborene Klägerin ist seit dem 1. Mai 2000 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Angestellte im Bereich Check-In auf dem Flughafen T. in Berlin in Teilzeit (28 Wochenstunden) mit einem Bruttomonatseinkommen in Höhe von 2.300,- EUR beschäftigt. Sie ist mit einem Grad von 40 % behindert und einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

Die Beklagte ist ein Unternehmen der W. Unternehmensgruppe. Die W. erbringt Dienstleistungen in den Bereichen Aviation, Facility und Industrie. Die W. A. Service Holding ist ein führender Spezialist für Flughafendienstleistungen. Kerngeschäft sind bodennahe Verkehrsdienstleistungen für Flughäfen und Fluggesellschaften, die das Unternehmen überwiegend mit eigenen Mitarbeitern erbringt. Im Einzelnen sind dies Airport Service, Ground Service, Passage Service, Cargo Service und Airport Personal Service.

Die Beklagte erbrachte mit insgesamt ca. 190 Arbeitnehmern weitgehend auf dem Flughafen Berlin-T. sowie mit zuletzt noch 14 Arbeitnehmern auf dem im Bundesland Brandenburg gelegenen Flughafen Berlin-Sch. verschiedene Dienstleistungen im Bereich der Passagierabfertigung (Passage Service). Im Bereich Check-In waren ca. 123 Arbeitnehmer tätig, im Bereich Gepäckermittlung (Lost & Found) ca. 41 Arbeitnehmer, davon 14 auf dem Flughafen Sch., im Bereich Datenbasis (IT-seitige Flugvorbereitung) 7 Arbeitnehmer und im Bereich VIP-Service (Betreuung der VIP-Lounge in T.) ca. 3 Arbeitnehmer tätig. Weitere Tätigkeiten entfaltete die Beklagte nicht. Einzige Auftraggeberin der Beklagten war die G. Berlin GmbH & Co. KG (GGB).

Die GGB wurde im Jahre 2008 durch die W. Gruppe erworben. Im Jahre 2011/2012 erfolgten eine organisatorische und eine rechtliche Trennung der verschiedenen Geschäftsbereiche der GGB in Passage bzw. Passagierabfertigung, Rampe bzw. Vorfeld, Verwaltung und Werkstatt. Während die Verwaltung bei der GGB verblieb, wurde der Bereich Werkstatt von der W. A. W. Service Berlin GmbH & Co. KG, der Bereich Rampe bzw. Vorfeld von der AGSB A. G. Service Berlin GmbH & Co. KG und der Betrieb Passage bzw. Passagierabfertigung von der Beklagten fortgeführt.

Ob im Jahre 2013 sämtliche Aufträge von der GGB in die W. Contracting GmbH & Co. KG transferiert wurden oder ob dieses nur zu ca. einem Drittel geschah, ist zwischen den Parteien streitig. Jedenfalls beschäftigte die GGB spätestens Ende 2013 keine Arbeitnehmer mehr.

Am 30. Juni 2014 endete der Auftrag der Passagierabfertigung am Flughafen Sch. für die Beklagte und wurde zum 1. Juli 2014 von der GGB der PSS GmbH & Co. KG übertragen. Gesellschafter der Komplementär GmbH, der Passage Service Sch. GmbH (PSS), sind die GGB und ein Herr R. Sch., der nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerseite im Rahmen eines Treuhandvertrages an Weisungen der W.-Konzernleitung gebunden ist.

Am 15. September 2014 wurde die P. GmbH gegründet. Gegenstand der Gesellschaft ist unter anderem die "Durchführung von Treuhandgeschäften", Herr R.Sch. wurde zu deren Geschäftsführer bestellt. Deren Geschäftsadresse befindet sich in einem Mehrfamilienhaus in der A... 9, 17489 G.. Unter dieser Anschrift residiert auch die Firma P. S. T. GmbH (PST). Alleingesellschafter der Fa. PST ist laut Handelsregister die Fa. P. GmbH.

Die GGB ist die einzige Kommanditistin der Beklagten. Di...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge