Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit und Auslegung einer Betriebsvereinbarung über Arbeitsbedingungen und Gehaltszahlungen im Bereich des Manteltarifvertrages für den Berliner Einzelhandel

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 8 BV G. Arbeitsbedingungen verstößt nicht gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, soweit er einen Anspruch auf ein Weihnachtsgeld regelt. Dem steht insbesondere nicht der Manteltarifvertrag für den Berliner Einzelhandel entgegen.

Dieser enthielt und enthält in § 12 B Nr. 6 insoweit eine Öffnungsklausel (so auch BAG 29. Oktober 2002 - 1 AZR 573/01, Rn. 23 bei juris, zu einer gleichen Formulierung im Manteltarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel)

2. Die Klägerin kann auch nach Kündigung der BV G. Arbeitsbedingungen einen sich aus § 15 dieser Betriebsvereinbarung ergebenden Stufenaufstieg (in Stufe 6) beanspruchen.

a. Die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung über die in § 87 Abs. 1 BetrVG aufgezählten Gegenstände ist aber im Hinblick auf (entgegenstehende) Tarifregelungen nicht an § 77 Abs. 3 BetrVG, sondern nur an § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG zu messen (sog. Vorrangtheorie; grundlegend BAG - Großer Senat - 3. Dezember 1991 - GS 2/90).

b. Die Regelung des Stufenaufstiegs betrifft die durch die Betriebsparteien nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG geschaffene Vergütungsstruktur und damit die Frage, wie ein seitens des Arbeitgebers zur Verfügung gestelltes Entgeltvolumen auf die Belegschaft verteilt wird. Der Mitbestimmung steht nicht entgegen, wenn durch diese mittelbar auch die Höhe der Vergütung festgelegt wird. Eine solche Wirkung kann mit der Regelung von Entlohnungsgrundsätzen untrennbar verbunden sein (vgl. BAG 22. Juni 2010 - 1 AZR 853/08, Rn. 21).

3. Soweit die BV G. Arbeitsbedingungen Vergütungserhöhungen entsprechend der Tariflohnerhöhungen regelt, verstößt sie gegen § 77 Abs. 3 BetrVG, was sich auch auf die Höhe des Weihnachtsgeldes auswirkt.

4. Die BV G. Arbeitsbedingungen bildet auch ohne die unwirksame Regelung zur Vergütungserhöhung eine in sich geschlossene und praktikable Regelung für den Betrieb der Beklagten. Sie enthält nicht nur ein vollständiges Vergütungssystem mit Gehaltsgruppen und deren Definitionen, sondern auch Regelungen zur Arbeitszeit, zu Pausen, zur Mehrarbeit und Urlaubsregelungen (vgl. § 87 Abs. 1 Nr. 2, 3, 4, 5 und 10 BetrVG).

5. Die BV G. Arbeitsbedingungen wirkt - soweit sie danach wirksam ist - über den 31. Dezember 2014 hinaus nach § 77 Abs. 6 BetrVG fort.

a. Nach § 77 Abs. 6 BetrVG gelten die Regelungen einer Betriebsvereinbarung in Angelegenheiten, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Dies betrifft die Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung.

b. Die BV G. Arbeitsbedingungen ist teilmitbestimmt. Da die Beklagte nicht tarifgebunden ist, sind sämtliche in der Betriebsvereinbarung geregelten Vergütungsbestandteile - im mitbestimmungsrechtlichen Sinn - "freiwillige Leistungen". Die Beklagte hat nicht sämtliche Vergütungsbestandteile gestrichen. Sie hat ersichtlich zunächst nur Vergütungsbestandteile wie das Weihnachtsgeld und die Weiterleitung der Tariferhöhungen eingestellt und erbringt weiterhin übrige Vergütungsbestandteile. Mit der Streichung der Weihnachtszuwendung war auch nicht lediglich eine gleichmäßige Absenkung des Vergütungsniveaus verbunden, durch welche die Vergütungsstruktur unberührt geblieben wäre. Gleiches gilt für die Stufenerhöhung.

6. Die Klägerin hat auf die ihr nach der BV G. Arbeitsbedingungen nicht zustehenden Tariferhöhungen und ein höheres Weihnachtsgeld auch keinen Anspruch aus ihrem Arbeitsvertrag, einer betrieblichen Übung oder einer Gesamtzusage (insoweit Anschluss an LAG Hamburg 7. Dezember 2016 - 3 Sa 39/16; LAG Berlin-Brandenburg 20. April 2017 - 14 Sa 1991/16).

 

Normenkette

BetrVG § 77 Abs. 3 S. 1, § 87 Abs. 1 Nr. 10, § 77 Abs. 6; TVG § 1; BetrVG § 87 Abs. 1 Nrn. 2-5

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 20.10.2016; Aktenzeichen 4 Ca 18005/15)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 16.07.2019; Aktenzeichen 1 AZR 384/17)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 20. Oktober 2016 - 4 Ca 18005/15 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und der Tenor insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.531,69 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 141,95 Euro brutto seit dem 1. Juli 2015, aus 67,89 Euro brutto seit dem 1. August 2015, aus 40,55 Euro brutto seit dem 1. September 2015, aus jeweils 141,95 Euro brutto seit dem 1. Oktober und dem 1. November 2015 sowie aus 997,40 Euro brutto seit dem 1. Dezember 2015 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtstreits zu tragen.

3. Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Vergütungsbestandteile, die sich nach Ansicht der Klägerin aus einer Betriebsver...

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