Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit von Betriebsvereinbarungen im Geltungsbereich des Manteltarifvertrages für den Berliner Einzelhandel

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG gilt nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen zulässt.

2. Zwar haben die Tarifvertragsparteien im Manteltarifvertrag für den Berliner Einzelhandel den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen (hier: für die Zahlung eines Weihnachts- und eines Urlaubsgeldes) nicht wörtlich zugelassen. Aus den jeweils unverändert gebliebenen Anrechnungsbestimmungen in § 12 B Nr. 6 folgt aber mit der erforderlichen Eindeutigkeit, dass der Abschluss von Betriebsvereinbarungen über betriebliche Sonderleistungen erlaubt ist.

3. Darüber hinaus können Angelegenheiten, die der zwingenden Mitbestimmung unterliegen, auch dann durch eine Betriebsvereinbarung geregelt werden, wenn einschlägige tarifliche Regelungen bestehen, die beim Arbeitgeber mangels Tarifbindung aber nicht nur normativ gelten.

4. Eine Betriebsvereinbarung wirkt nur dann nicht fort, wenn der Arbeitgeber diese kündigt, um seine finanziellen Leistungen vollständig und ersatzlos einzustellen. Will der Arbeitgeber seine finanziellen Leistungen aber nicht völlig zum Erlöschen bringen, sondern mit der Kündigung einer Vertriebsvereinbarung nur eine Verringerung des Volumens der insgesamt zur Verfügung gestellten Mittel und zugleich eine Veränderung des Verteilungsplans erreichen, wirkt die Betriebsvereinbarung nach.

 

Normenkette

BetrVG § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 08.06.2016; Aktenzeichen 63 Ca 4764/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 15.01.2019; Aktenzeichen 1 AZR 64/18)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 8. Juni 2016 - 63 Ca 4764/16 - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung teilweise abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin 3.964,18 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 1.982,09 Euro seit dem 1. Dezember 2015 und auf weitere 1.982,09 Euro seit dem 1. Juni 2016 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 42 % und die Beklagte zu 58 %.

III. Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Ansprüche auf Vergütungsdifferenzen im Zeitraum von August 2015 bis April 2016, auf Zahlung eines Weihnachtsgeldes für das Jahr 2015, auf Zahlung eines Urlaubsgeld für das Jahr 2016 und um eine Fahrkarte für den öffentlichen Personennahverkehr rückwirkend ab dem 1. Januar 2016.

Die Klägerin ist bei der Beklagten, die einen Einzelhandel für Outdoor- und Reiseequipment betreibt, in deren Niederlassung in Berlin seit dem 1. November 1994 als Fachverkäuferin gegen ein Bruttomonatsgehalt in Höhe von zuletzt ca. 3.395,12 Euro beschäftigt. Ihr Gehalt setzt sich zusammen aus einen Grundgehalt in Höhe von 3.094,- Euro, einem übertariflichen Zuschlag in Höhe von 153,39 Euro sowie einem Verkaufszuschlag in Höhe von 147,73 Euro. In dem von den Parteien geschlossenen Arbeitsvertrag ist eine am letzten eines Monats fällige Vergütung nach einer Gehaltsgruppe G2-3 und eine wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden vereinbart. Unter § 9 Schlussbestimmungen ist in Nr. 4 folgende Regelung enthalten:

"(...)

Dieser Vertrag ist nur in Verbindung mit der nachfolgenden G.-Hamburg-Betriebsvereinbarung gültig.

(...)"

Wegen der weiteren Einzelheiten der Arbeitsbedingungen wird auf den die Parteien verbindenden Arbeitsvertrag vom 1. März 1996 (Anlage K 1, Bl. 40 - 43 d. A.) verwiesen. Aktuell erhält die Klägerin eine Vergütung nach Vergütungsgruppe G3-6.

Die im Arbeitsvertrag genannte Betriebsvereinbarung schloss die Beklagte, die bis zum 31. März 2008 dem Landesverband des Hamburger Einzelhandels e. V. angehörte mit Wirkung vom 1. März 1997 für die Berliner Betriebe. Die Betriebsvereinbarung wird von folgender Präambel eingeleitet:

"Ziel der Konzeption einer Betriebsvereinbarung war die Schaffung eines Gehalts- und Arbeitszeitsystems, das für jeden Mitarbeiter nachvollziehbar, einsehbar und leistungsgerecht ist. Ferner sollen die gesetzlichen Ladenschlusszeiten des Einzelhandels in gerechte Rahmenbedingungen gefügt werden.

Als Grundlage wurden größtenteils bestehende Vereinbarungen genommen. Der Tarif berücksichtigt die Mindestforderungen des Einzelhandelstarifes in Hamburg, soweit nicht andere Vereinbarungen getroffen werden und diese einen individuellen Leistungsausgleich berücksichtigen (Arbeitsvertrag). Eine Überarbeitung findet mindestens zum Zeitpunkt gültiger Tarifverhandlungen des Einzelhandels statt.

Die nachstehenden Paragraphen ergänzen die Regelungen des Arbeitsrechtes und gelten als Bestandteil des Arbeitsvertrages (Individualvereinbarung).

Jedem G. wird eine Ausfertigung der Vereinbarung bei Beginn des Arbeitsverhältnisses zusammen mit dem Arbeitsvertrag übergeben.

Die Bezeichnung des Arbeitnehmers als "G." ist dem gleichz...

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