Entscheidungsstichwort (Thema)

Heilung des Zustellungsmangels unzureichend beglaubigter Abschriften der Klageschrift durch rügelose Einlassung. Unverhältnismäßige fristlose und verhaltensbedingte Kündigung wegen Beleidigung des Geschäftsführers im Rahmen eines Personalgesprächs

 

Leitsatz (amtlich)

Der durch die unzureichende Beglaubigung der Abschriften einer Klageschrift begründete Zustellungsmangel ist über eine rügelose Einlassung der beklagten Partei gemäß § 295 Abs. 1 ZPO heilbar (Abweichung von LAG Baden-Württemberg 20.02.2013 - 4 Sa 93/12).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einem Personalgespräch ist regelmäßig von einer relativ angespannten Lage auszugehen, soweit keine besonderen Umstände vorgetragen oder sonst erkennbar sind; eine zweimal hintereinander erfolgte spontane verbale Entgleisung eines Arbeitnehmers begründet daher dann, wenn sie nicht in übelster Weise starke Verunglimpfungen enthält und wenn aus ihr nicht spürbare betriebliche Auswirkungen hervorgehen, noch keine Prognose, dass eine dauerhafte störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht zu erwarten ist.

2. Im Falle spontaner verbaler Entgleisungen in einem Personalgespräch ist es der Arbeitgeberin zuzumuten, dem Arbeitnehmer klar mitzuteilen, dass sie es auch dann, wenn sie zuvor zu einem offenen Meinungsaustauch aufgerufen hat oder der Arbeitnehmer einen solchen im Rahmen des Personalgesprächs zumindest erwarten darf, nicht hinnimmt, dass der Geschäftsführer oder das Unternehmen mit Formalbeleidigungen und Schimpfworten angegriffen werden.

3. Bei der Gewichtung beleidigender Äußerungen über den Geschäftsführer ist danach zu unterscheiden, ob der Arbeitnehmer dem Geschäftsführer ins Gesicht sagt, dass er ein Lügner ist, oder ob er dies im Gespräch mit zwei anderen Mitarbeitern äußert; auch wenn der Arbeitnehmer damit rechnen muss, dass der gesamte Inhalt des Gesprächs dem Geschäftsführer berichtet wird, erscheint eine nicht direkt “ins Gesicht„ geäußerte Beleidigung weniger schwerwiegend, wenn der Arbeitnehmer zumindest hoffen darf, dass das Gespräch nicht eins zu eins dem Geschäftsführer zu Ohren kommen wird und die Gesprächspartner jedenfalls seine Äußerungen nicht im Betrieb streuen werden, so dass er nicht mit einem größeren Schaden rechnen muss.

 

Normenkette

ZPO § 169 Abs. 2-3, § 253 Abs. 1, § 261 Abs. 1, § 295 Abs. 1; BGB § 241 Abs. 2, § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Reutlingen (Aktenzeichen 2 Ca 128/15)

 

Tatbestand

Ausgangspunkt des Verfahrens ist eine außerordentliche fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung der beklagten Arbeitgeberin vom 03.07.2015. Die Parteien streiten darüber, ob die Klageschrift wirksam zugestellt wurde, ob der Kläger mit ihr die Kündigung nur als außerordentliche fristlose oder auch als hilfsweise ordentliche Kündigung angegriffen hat, sowie darüber, ob ein Kündigungsgrund gegeben ist.

Der Kläger ist am 00.00.000 geboren. Er ist verheiratet und einem Kind zum Unterhalt verpflichtet. Bei der Beklagten ist er seit dem 01.06.2008 als Mitarbeiter in der Zerspanung in A. beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt in ihrer Niederlassung in A. etwa 40 Arbeitnehmer und in einer weiteren Niederlassung in K. etwa 20 Arbeitnehmer.

Mit Schreiben vom 01.06.2015, dem Kläger am selben Tag ausgehändigt, erteilte die Beklagte dem Kläger eine Abmahnung, weil er ihrer Ansicht nach seiner Anzeigepflicht hinsichtlich einer Arbeitsverhinderung am 27., 28. und 29.05.2015 nicht nachgekommen sei. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf das Abmahnungsschreiben vom 01.06.2015 Bezug genommen (Anlage B 1, Bl. 36 ArbG-Akte).

Am 23.06.2015 fand gegen 13.00 Uhr ein Personalgespräch mit dem Kläger statt. Auf Beklagtenseite nahmen der Personalleiter Herr W. und der Betriebsleiter Herr G. teil. Anlass und Inhalt dieses Gesprächs sind im Einzelnen streitig. Streitig ist insbesondere, ob der Kläger - so der Vortrag der Beklagten - in diesem Gespräch den Geschäftsführer der Beklagten als "Lügner" und die Beklagte als "Scheißladen" bezeichnete.

Am 03.07.2015 kam es im Betrieb zu einer Begegnung des Geschäftsführers der Beklagten mit dem Kläger und einer Auseinandersetzung über die Frage, ob der Kläger den Gruß des Geschäftsführers erwidert habe. Im Anschluss daran wurde dem Kläger noch am selben Tag das Kündigungsschreiben der Beklagten vom 03.07.2015 übergeben (Anlage K 1, Bl. 3 ArbG-Akte), wobei die Überschrift wie nachfolgend dargestellt fett gedruckt war:

A.-A., den 03. Juli 2015

Außerordentliche fristlose Kündigung

Sehr geehrter Herr [Name des Klägers],

hiermit kündigen wir Ihr Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin.

Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie zur Vermeidung sozialversicherungsrechtlicher Nachteile verpflichtet sind, sich unverzüglich persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend zu melden.

Hochachtungsvoll

[Unterschrift des Geschäftsführers]

Am 09.07.2015 ging beim Arbeitsgericht Reutlingen die vorliegende Kündigungsschutzklage des Klägers ein. Sie hat folge...

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