Entscheidungsstichwort (Thema)

Anfechtung eines Prozessvergleich wegen Unterbleiben der Bestellung eines Kommunikationshelfers für eine seh- und hörbehinderte Partei (§ 186 GVG). Grundsatz des fairen Verfahrens

 

Leitsatz (redaktionell)

Es besteht keine Rechtspflicht des Arbeitgebers, den anwaltlich vertretenen betroffenen Arbeitnehmer über die rechtlichen Folgen einer Stellung als schwerbehinderter Mensch, insbesondere über den Sonderkündigungsschutz, aufzuklären. Es gehört zum arbeitsrechtlichen Grundwissen, dass ein schwerbehinderter Arbeitnehmer Sonderkündigungsschutz genießt. Zumindest darf der Arbeitgeber davon ausgehen, dass der Arbeitnehmer, der einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter stellt, sich über die rechtlichen Folgen der Anerkennung Klarheit verschafft.

 

Normenkette

BGB §§ 242, 779; ZPO § 138; SGB X § 85

 

Verfahrensgang

ArbG Heilbronn (Urteil vom 10.06.2005; Aktenzeichen 2 Ca 273/04)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen dasUrteil desArbeitsgerichts Heilbronn – Kammern Crailsheim – vom10.06.2005 –2 Ca 273/04 – wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der zwischen ihnen unter dem Aktenzeichen 2 Ca 326/04 geführte Kündigungsrechtsstreit durch Prozessvergleich vom 24.08.2004 beendet worden ist.

Der am 23.01.1948 geborene Kläger war bei der Beklagten seit 01.09.2002 als Erzieher beschäftigt. Die Parteien führten unter dem Aktenzeichen 2 Ca 326/04 einen Kündigungsschutzrechtstreit, in dessen Rahmen sie über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten vom 22.07.2004 stritten. Grund für die Kündigung war eine Äußerung des Klägers gegenüber dem Geschäftsführer der Beklagten, die nach dessen Auffassung den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllte. Am 24.08.2004 schlossen der – damals anwaltlich vertretene – Kläger und die Beklagte einen Prozessvergleich, wonach das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am 31.08.2004 unter Freistellung des Klägers von der Arbeitsleitung endete.

Mit Schriftsatz vom 30.09.2004 machte der Kläger aus prozessualen und materiellrechtlichen Gründen die Unwirksamkeit des Prozessvergleichs geltend. Wegen des Sachverhalts wird gemäß § 69 Abs. 3 Satz 2 ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen. Ergänzend ist auszuführen, dass der seh- und hörbehinderte Kläger mittlerweile aufgrund eines Teilabhilfebescheids des Versorgungsamts vom 05.04.2005 einen Grad der Behinderung von 100 % mit dem Merkzeichen H (= hilflos) aufweist. Zunächst hatte das Versorgungsamt auf den Antrag des Klägers vom 24.06.2004 hin mit Bescheid vom 28.09.2004 einen Grad der Behinderung von 70 % seit dem Datum der Antragstellung zuerkannt.

Der Kläger hat den Prozessvergleich vom 24.08.2004 insbesondere mit der Begründung angefochten bzw. für unwirksam gehalten, dass ihn die Beklagte nicht über das Bestehen des Sonderkündigungsschutzes aufgeklärt habe. Seine Schwerbehinderteneigenschaft sei für die Beklagte offenkundig gewesen. Darüber sei der Vergleich prozessual unwirksam, weil er den erstinstanzlichen Richter weder habe sehen noch hören können. Sein damaliger Prozessbevollmächtigter habe ihn nicht richtig und nicht vollständig über den Inhalt des Prozessvergleichs unterrichtet. Die Beklagte hat erwidert, ihr sie sei die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers nicht bekannt gewesen. Der Kläger habe im Gütetermin auch nicht darauf hingewiesen, dass er einen Kommunikationshelfer benötige.

Mit Urteil vom 10.06.2005 hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass der Kündigungsrechtsstreit durch den Vergleich vom 24.08.2004 beendet sei. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, der Vergleich sei weder nach § 134 BGB und nach § 138 BGB noch aufgrund einer Anfechtung nach den §§ 119, 123 BGB noch nach § 779 BGB nichtig. Insbesondere habe die Beklagte keine Verpflichtung getroffen, den Kläger über den Sonderkündigungsschutz des § 85 SGB IX zu unterrichten. Der Kläger sei im Kündigungsschutzprozess anwaltlich vertreten gewesen und habe sich daher in rechtlicher Hinsicht gegenüber der Beklagten in keiner unterlegenen Situation befunden. Sämtliche für die Beurteilung der Schwerbehinderteneigenschaft maßgeblichen Umstände seien dem Kläger selbst bekannt gewesen. Es sei nicht Sache der Beklagten, den Prozess für den Kläger zu führen. Auch ein rechtserheblicher Irrtum des Klägers über den Vergleichsinhalt liege nicht vor. Der Vergleich leide auch nicht an prozessualen Mängeln. Insbesondere verstoße er nicht gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs und gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens.

Gegen das ihm am 14.06.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14.07.2005 Berufung eingelegt und diese am 15.08.2005 (Montag) begründet. Er trägt vor, aufgrund seiner Sehund Hörbehinderung habe er den erstinstanzlichen Richter in der Güteverhandlung weder sehen noch hören können. Aufgrund seiner Augenerkrankung verfüge er nur noch über eine minim...

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