Entscheidungsstichwort (Thema)

Erkundigungspflicht des Arbeitgebers. Diskriminierung wegen Behinderung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Pflicht zur Einladung zu einem Vorstellungsgesprüch entfällt nicht deswegen, weil die ausgeschriebene Stelle als Mutterschaftsvertretung neu zu besetzen ist (§ 82 Satz 1 iVm § 72 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX).

2. Macht ein schwerbehinderter Bewerber im Bewerbungsschreiben unklare Angaben über den Grad und die Art seiner Behinderung, so triffft den Arbeitgeber keine Pflicht, sich im Hinblick auf § 1 AGG über den Grad und die Art der Behinderung zu erkundigen.

 

Normenkette

SGB IX § 82 S. 1, § 72 Abs. 2 Nr. 7; AGG § 1

 

Verfahrensgang

ArbG Pforzheim (Urteil vom 09.03.2010; Aktenzeichen 1 Ca 584/09)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 13.10.2011; Aktenzeichen 8 AZR 608/10)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Pforzheim – vom 09.03.2010 – 1 Ca 584/09 – wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen hat.

Der am 23. März 1964 geborene, ledige Kläger absolvierte von 1982 bis 1985 eine Berufsausbildung als Großhandelskaufmann. Daran anschließend erwarb er im Jahr 1987 die Fachhochschulreife. Von 1987 bis 1992 studierte der Kläger Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule F.. Er erwarb den Abschluss als Dipl.-Betriebswirt FH. Von 1992 bis 1996 übte der Kläger verschiedene Tätigkeiten aus. Von 1996 bis 1998 absolvierte er eine weitere Berufsausbildung als Chemisch-Technischer Assistent. Daran anschließend übte er erneut verschiedene Tätigkeiten aus.

Von September 2004 bis August 2005 nahm der Kläger am praktischen Einführungsjahr für den gehobenen Verwaltungsdienst bei der Gemeinde H. teil. Von September 2005 bis September 2008 studierte er an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in K.. Im Hauptstudium wählte er das Fach Wirtschaft mit dem Wahlpflichtfach Rechnungswesen. Am 17. September 2008 legte der Kläger die Staatsprüfung für den gehobenen Verwaltungsdienst mit der Gesamtnote befriedigend (7 Punkte) ab.

Der Kläger ist seit 23. September 1997 schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 60 %. Er leidet an einem essentiellen Tremor, der nicht behandlungsbedürftig ist.

Im Sommer 2009 schrieb die Beklagte eine Stelle für die Bereiche Personalwesen, Bauleitplanung, Liegenschaften und Ordnungsamt aus. Die Stelle war als Mutterschaftsvertretung zu besetzen. Für das genannte Aufgabengebiet suchte die Beklagte eine/n Mitarbeiter/in mit der Qualifikation des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes und umfassenden Kenntnissen. Die Vergütung sollte nach dem TVöD erfolgen. Die Beklagte ist eine Gemeinde mit 3.700 Einwohnern. In der Verwaltung sind insgesamt 12 Beschäftigte bei 8 Stellen tätig.

Mit Schreiben vom 8. Juli 2009 bewarb sich der Kläger um die ausgeschriebene Stelle. Nach seiner Staatsprüfung hatte sich der Kläger bereits um zahlreiche Stellen beworben, jedoch durchweg ohne Erfolg. In seinem ausführlichen Bewerbungsschreiben führte der Kläger am Ende folgendes aus:

„Durch meine Behinderung bin ich, insbesondere im Verwaltungsbereich, nicht eingeschränkt.”

Mit dem Bewerbungsverfahren war bei der Beklagten Frau U. Ma. betraut. Frau Ma. hatte ebenfalls die Fachhochschule K. besucht und kannte den Kläger flüchtig. Hierbei hatte Frau Ma. den Eindruck gewonnen, dass sich der Kläger anderen Studentinnen und Studenten aufdrängt. Über diesen Eindruck unterrichtete sie den Bürgermeister der Beklagten. Dieser kam daraufhin zur Überzeugung, dass der Kläger nicht berücksichtigt werden könne. Im weiteren Verlauf des Bewerbungsverfahrens wurden von den ca. 10 eingegangenen Bewerbungen zwei Bewerber zur Vorstellung beim Gemeinderat ausgewählt. Eingestellt wurde Frau D.M. Frau D.M. hatte ihr Staatsexamen mit 8 Punkten bestanden. Sie hatte während des Hauptstudiums den Bereich „Verwaltung” und das Schwerpunktfach Kommunalpolitik gewählt. Mit Schreiben vom 30. Juli 2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Auswahlentscheidung nicht zu seinen Gunsten ausgefallen sei.

Mit Anwaltsschreiben vom 14. August 2009 teilte der Kläger mit, dass er seit dem 23. September 1997 einen Grad der Behinderung von 60 % aufweise. Er rügte, dass er nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden sei. Vorsorglich machte der Kläger Schadenersatzansprüche nach § 15 AGG geltend. Mit weiterem Anwaltsschreiben vom 10. September 2009 beanspruchte der Kläger eine Entschädigung in Höhe von drei Monatsgehältern.

Mit Antwortschreiben vom 24. September 2009 teilte die Beklagte u.a. mit, dass die Einladung zum Vorstellungsgespräch entbehrlich gewesen sei, weil dem Kläger die fachliche Eignung offensichtlich gefehlt habe. Mit Anwaltsschreiben vom 25. September 2009 widersprach der Kläger dieser Auffassung. Der weitere Schriftwechsel zwischen den Prozessbevollmächtigten vom 2. Oktober und 7. Oktober 2009 blieb ergebnislos.

Im Anschluss an...

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