Entscheidungsstichwort (Thema)

außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist. tarifvertraglicher Ausschluss ordentlicher Unkündbarkeit. europarechtliche Vorgabe der Richtlinie 2000/78/EG. Tarifautonomie

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist, die eine tariflich ausgeschlossene ordentliche Kündigung ersetzt, ist auf extreme Ausnahmefälle begrenzt und kommt nur dann in Betracht, wenn alle zumutbaren, eine Weiterbeschäftigung ermöglichenden Mittel und Maßnahmen – ggf. auch durch Umorganisation des Betriebs, unter Berücksichtigung alternativer Konzepte oder nach Umschulung – ausgeschöpft sind. Das Fehlen jeglicher, auch anderweitiger sinnvoller Beschäftigungsmöglichkeiten zählt dabei zum wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB und ist vom Arbeitgeber darzulegen.

Bisherige ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, zuletzt BAG 18. März 2010 – 2 AZR 337/08

2. Die tarifvertragliche Vereinbarung ordentlicher Unkündbarkeit in § 4.4 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte zum ERA-Tarifvertrag Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern vom 14. Juni 2005, die an die Vollendung des 53. Lebensjahres und an eine dreijährige Betriebszugehörigkeit anknüpft, ist – unter Beachtung einer verfassungs- und richtlinienkonformen Einschränkung für den Extremfall grob fehlerhafter Sozialauswahl – wirksam und mit den europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und den Regelungen zur Altersdiskriminierung zu vereinbaren. Bei dieser Beurteilung ist in besonderem Maße die verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie und der daraus folgende weite Ermessensspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen.

 

Normenkette

BGB § 626; 1 RL 2000/78/EG Art. 6

 

Verfahrensgang

ArbG Ulm (Urteil vom 14.09.2010; Aktenzeichen 8 Ca 525/09)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 14.03.2019; Aktenzeichen 1 BvR 367/14)

BAG (Urteil vom 20.06.2013; Aktenzeichen 2 AZR 295/12)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts Ulm – Kammern Ravensburg – vom 14.09.2010 – 8 Ca 525/09 – wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

3. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen. Für den Kläger wird die Revision nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung der Beklagten vom 29.08.2009 mit Auslauffrist zum 31.03.2010, über eine hilfsweise ausgesprochene ordentliche betriebsbedingte Kündigung mit denselben Daten sowie über einen Weiterbeschäftigungsanspruch.

Der am 31.07.1956 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger, der eine Ausbildung als Maschinenschlosser hat, ist seit dem 01.04.1975 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Metallindustrie, bzw. bei deren Rechtsvorgängerin als Schlosser in der Abteilung Instandhaltung zu einem Bruttomonatsverdienst von zuletzt 3.543,50 EUR beschäftigt. Bei der Beklagten sind mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt. Ein Betriebsrat ist bei ihr gebildet.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für Beschäftigte zum ERA-Tarifvertrag Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern vom 14. Juni 2005 (im Folgenden: MTV) Anwendung.

§ 4.4 Satz 1 dieses Manteltarifvertrages lautet wie folgt:

„Einem Beschäftigten, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat und dem Betrieb mindestens drei Jahre angehört, kann nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.”

Die Tätigkeit als Schlosser bei der Beklagten wurde aufgrund der Belastungen in den Bereichen Muskelbelastung, Lärmbelastung und sonstige Umgebungseinflüsse wie Öl, Hitze, Säure, Dämpfe, Blendung und erhöhte Unfallgefahr, im Jahr 2007 im Zuge der ERA-Einführung im Rahmen einer gemeinsamen Bewertung durch Arbeitgeber und Betriebsrat (Bewertung der Paritätischen Kommission vom 05.12.2007 für die Tätigkeit als Schlosser in der Abteilung Instandhaltung, Bl. 480 der Berufungsakten) mit drei Belastungspunkten, der zweithöchsten Belastungsstufe, bewertet. Wegen der Einzelheiten der Bewertungskriterien und Belastungsarten und -stufen wird auf die Seiten 8 – 11 des Schriftsatzes der Beklagten vom 21.12.2010 nebst Anlagen, Bl. 444 –447 und 478-479 der Berufungsakten, sowie die Seiten 11 – 15 des Schriftsatzes der Beklagten vom 05.01.2010, Bl. 580 – 584 der Berufungsakten, verwiesen.

Bis zum 15.09.2007 war der Kläger in einem Mehrschichtsystem bei der Beklagten beschäftigt. Der Kläger erlitt am 15.09.2007 einen Schlaganfall. Unter dem 06.11.2007 (Bl. 623 der Berufungsakten) bat der Kläger aus gesundheitlichen Gründen um die Versetzung von der Früh- und Spätschicht in die Tagschicht. Der Kläger reichte ein ärztliches Attest von Frau Dr. B. vom 18.12.2007 (Bl. 624 der Berufungsakten) ein, wonach d...

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