Entscheidungsstichwort (Thema)

Zwei wahlberechtigte Arbeitnehmer für Wahlanfechtung ausreichend. Tatsächliche Verkehrsverbindung als entscheidendes Kriterium für weite Entfernung von Betriebsteilen. Keine Rückwirkung nichtiger Beschlüsse. Verkennung des Betriebsbegriffes als Grund für Unwirksamkeit, aber keine Nichtigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird die Wahlanfechtung neben einem allein noch betriebszugehörigen Antragsteller von zumindest zwei weiteren, im Zeitpunkt der Wahl wahlberechtigten, antragstellenden Arbeitnehmern getragen, gerät die Anfechtungsbefugnis nicht in Wegfall.

2. Für die Frage, ob ein Betriebsteil iSd. § 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG vom Hauptbetrieb räumlich weit entfernt ist, kommt es allein auf die physische Erreichbarkeit und damit auf die Qualität der Verkehrsverbindung und die konkreten Betreuungsmöglichkeiten, nicht aber auf die Verfügbarkeit moderner Kommunikationsmittel an.

3. Vor dem Inkrafttreten des § 4 Abs. 1 Satz 2 bis 5 BetrVG 2001 zum 28. Juli 2001 gefasste Zuordnungsbeschlüsse sind, soweit diese nicht nach dem 15. Januar 1972 gefasst und in einem wirksamen Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG 1972 mit Zustimmung der obersten Arbeitsbehörde ermöglicht sind, nach § 134 BGB nichtig. Der etwaigen Bestätigung eines solch nichtigen Beschlusses kommt nach § 141 BGB keine rückwirkende Wirkung (ex tunc) zu.

4. Die Verkennung des Betriebsbegriffs beeinflusst das Wahlergebnis in jedem Fall und führt daher ohne weiteres zur Anfechtbarkeit der Betriebsratswahl nach § 19 Abs. 1 BetrVG. Wird unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 BetrVG ein einheitlicher Betriebsrat statt mehrerer Betriebsratsgremien gewählt, wird das Recht der Arbeitnehmer des als selbständig geltenden Betriebsteils auf eine eigens für sie zuständige Betriebsvertretung beschnitten.

 

Normenkette

ArbGG § 83 Abs. 3; BetrVG § 19; BetrVG 2001 § 4; BetrVG 1972 § 4; BetrVG 1952 § 3; BGB §§ 134, 141; BetrVG § 21a Abs. 1, § 4 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 25.04.2019; Aktenzeichen 21 BV 62/18)

 

Tenor

  1. Die Beschwerden der Beteiligten Ziffer 6 und 7 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 25. April 2019 - 21 BV 62/18 - werden zurückgewiesen.
  2. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
 

Gründe

A. Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit der Wahl des Betriebsrats in der "Z." der D. AG in S. am 1. März 2018.

Die Antragsteller/Beteiligten Ziffer 1 bis 5 waren zum Zeitpunkt der Wahl im Betrieb der Beteiligten Ziffer 7 beschäftigte, wahlberechtigte Arbeitnehmer. Sie sind dem Betrieb "Z." zugeordnet.

Die Beteiligte Ziffer 7 ist ein Unternehmen der Automobilindustrie mit Sitz in S. in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Ihre Hauptverwaltung ist größtenteils am Stammsitz in der M.straße XXX in S. angesiedelt. An diesem Standort befinden sich noch andere Unternehmensbereiche. Laut Wahlausschreiben (Anlage A1, Bl. 55-62 d. Akte ArbG) vom 29. November 2017 waren in der "Z." S. 6.656 weibliche und 10.152 männliche, dh. 16.808 Arbeitnehmer beschäftigt.

Der Beteiligte Ziffer 6 ist der bei der Betriebsratswahl am 1. März 2018 gewählte und gebildete 41-köpfige Betriebsrat des Betriebs "Z.".

Mit Wahlausschreiben vom 29. November 2017 legte der Wahlvorstand den Zeitpunkt der Wahl des Betriebsrats für die Betriebsorganisation "Z." auf den 1. März 2018 fest. Der Betrieb "Z." wurde dabei nicht allein räumlich, sondern auch funktional verstanden. Zum Bereich der "Z." gehörte danach der Bereich "Z. F./G." mit ca. 4.000 Beschäftigten, der Bereich Truck mit ca. 4.500, der Bereich VAN mit ca. 2.900 sowie der Bereich XCars mit ca. 3.000 Beschäftigten. Darüber hinaus wurden dem Betrieb "Z." Beschäftigte aus anderen Standorten wie M., U., B., F., B., K., L.-E. und G. zugeordnet.

Die Beteiligte Ziffer 7 betreibt seit 1954 in XXXXX G. das interne Seminarhotel "Haus L.". G. liegt ca. 100 km von der M.straße XXX in S. entfernt. Vor Ort in G. besteht eine eigene fachliche Leitung (Frau M. L.), die Weisungsrechte ausübt und die Steuerung der internen Konferenz- und Tagungshäuser verantwortet. Das Haus L. besteht seit 1954. Seit 1968 ist das Haus L. den Z.funktionen zugeordnet. Ebenfalls seit 1968 wurden die Mitarbeiter von dem für die Z.funktionen zuständigen Betriebsrat betreut und nahmen an dessen Wahl teil. Zum Zeitpunkt der Wahl des Betriebsrats "Z." am 1. März 2018 waren dort mehr als 21, nach Angaben der Beteiligten Ziffer 7 am Wahltag 27 wahlberechtigte Mitarbeiter beschäftigt. Von diesen 27 Wahlberechtigten haben drei an der Betriebsratswahl durch Stimmabgabe am 1. März 2018 teilgenommen. Kein Mitarbeiter des Hauses L. stand auf einer der Wahllisten zur Wahl.

Dem Betrieb "Z." ist auch die Hauptstadtrepräsentanz in B. zugeordnet. Im "Haus H." (A. Straße X) ist seit 1999 die Konzernrepräsentanz für Bundesangelegenheiten der Beteiligten Ziffer 7 ansässig. Die Konzernrepräsentanz ist insbesondere Ansprechpartner für Interessenvertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zum Zeitpunkt der Betriebsratswahl am 1. März 2018 waren mindestens 10 ...

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