Leitsatz (amtlich)

1. Die Dringlichkeitsvermutung von § 650d BGB begünstigt auch Verfügungsanträge, die auf einstweilige Zahlungen an den Unternehmer gerichtet sind.

2. Die Dringlichkeitsvermutung entfällt nicht, wenn der Unternehmer seine Leistungen abgeschlossen hat und Schlussrechnungsreife eingetreten ist.

3. Nach § 650c Abs. 2 S. 2 BGB wird nur vermutet, dass die in einer Urkalkulation enthaltenen Rechnungsansätze den tatsächlich erforderlichen Kosten entsprechen. Auf die Mehrvergütung als solche, die der Unternehmer als Endergebnis der Preisfortschreibung unter Verwendung der Urkalkulation ermittelt hat, erstreckt sich die Richtigkeitsvermutung nicht.

4. § 650c Abs. 3 BGB enthält keine gesetzliche Vermutung, wonach 80 % der vom Unternehmer wegen einer Leistungsänderung beanspruchten Mehrvergütung in einem gerichtlichen Verfahren als zutreffend ermittelt gilt.

5. Verrechnet der Besteller eine Zahlung, die er auf eine einstweilige Zahlungsverfügung geleistet hat, im Rahmen der weiteren Vertragsdurchführung zu Unrecht mit anderen Vergütungspositionen, kann der Unternehmer gemäß § 650d BGB eine erneute einstweilige Verfügung gegen ihn beantragen.

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Aktenzeichen 8 O 126/20)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Verfügungsklägerin wird das Urteil des Landgerichts vom 16. Oktober 2020 unter Aufhebung der Kostenentscheidung wie folgt abgeändert:

Die Verfügungsbeklagte wird verpflichtet, an die Verfügungsklägerin 59.500,00 EUR (einschließlich Umsatzsteuer) nebst Zinsen in Höhe von neun Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 24. Juni 2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird der Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen.

II. Im Übrigen wird die Berufung der Verfügungsklägerin gegen das Urteil des Landgerichts zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Rechtsstreits über beide Instanzen tragen die Verfügungsklägerin zu 80 %, die Verfügungsbeklagte zu 20 %.

 

Gründe

A. Die Verfügungsklägerin (im Folgenden: Klägerin) nimmt die Verfügungsbeklagte (im Folgenden: Beklagten) im Wege einer einstweiligen Verfügung gemäß § 650d BGB auf Zahlung wegen umstrittener Vergütungsnachträge zu einem Bauvertrag in Anspruch.

Die Klägerin ist ein Malerunternehmen, die Beklagte ein öffentliches Wohnungsunternehmen.

Die Beklagte ließ in der L-Straße 56 bis 64 in Berlin-Marzahn fünf Gebäude mit insgesamt über 250 Wohnungen errichten. Sie führte eine öffentliche Ausschreibung für die Vergabe der Spachtel- und Malerarbeiten durch, wobei sie die in den einzelnen Gebäuden auszuführenden Arbeiten auf drei Lose mit unterschiedlichen Leistungsverzeichnissen aufteilte. Die Klägerin unterbreitete der Beklagten unter dem 18. März 2019 für jedes Los ein Angebot mit Einheitspreisen. Am 2. Mai 2019 beauftragte die Beklagte die Klägerin auf Grundlage dieser Angebote, wobei jeweils die Geltung der VOB/B vereinbart wurde. Die Auftragssummen belaufen sich auf die folgenden Beträge:

Los 1 (Häuser 64 und 62): 366.482,73 EUR (einschließlich Umsatzsteuer)

Los 2 (Haus 56): 277.498,48 EUR (einschließlich Umsatzsteuer)

Los 3 (Häuser 58 und 60): 436.598,51 EUR (einschließlich Umsatzsteuer)

Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlagen K 1 bis 3 verwiesen.

Nach Beginn der Arbeiten kam es zu diversen Streitigkeiten zwischen den Parteien. In deren Verlauf kündigte die Beklagte den Vertrag über das Los 1.

Hinsichtlich der Lose 2 und 3 vertrat die Klägerin die Auffassung, dass sie die folgenden Leistungen (im Folgenden zusammenfassend abgekürzt mit "NL" für "Nachtragsleistung") nicht in ihre Angebote hätte einkalkulieren müssen:

NL 1: Doppelte Ausführung des Grundanstrichs

NL 2: Zulage für quarzhaltigen Putzgrund

NL 3.a): Bearbeitung der "Perifugen" an den Wänden

NL 3.b): Mehrstärken der "Perifugen" an Decken und Wänden

NL 4: Ausgleichender Haftputz an Decken und Wänden

NL 5: Zusatzleistungen wegen nicht glatter Betonflächen

NL 6: Zulage Glasvlies

Die Klägerin ist weiter der Ansicht, dass ihr, nachdem sie diese Leistungen, wenn auch in umstrittenen Mengen, erbrachte, hierfür eine Mehrvergütung zustehe.

Wegen der Einzelheiten zu den Nachträgen NL 1 bis 6 wird auf die Antragsschrift der Klägerin vom 18. Juni 2020, S. 6 ff verwiesen.

Nachdem die Klägerin bereits mehrere Abschlagsrechnungen erteilt hatte, die die Beklagte zumindest teilweise bezahlt hatte, legte sie am 29. April 2020 ihre 7. Abschlagsrechnung für das Los 2 (Anlage K 4) und ihre 7. Abschlagsrechnung für das Los 3 (Anlage K 5). In diesen beiden Rechnungen stellte sie auch die unter NL 1 bis 6 aufgeführten Leistungen ein. Dabei ist die Klägerin wie folgt vorgegangen:

In den meisten Fällen der Nachträge NL 1 bis 6 bildete sie Teilleistungen mit Einheitspreisen, die sie mit einer neuen Positionsnummer versah (z.B. N1.02, N2.02, etc.). Sodann stellte sie diese Nachtragspositionen mit den aus ihrer Sicht erbrachten Mengen in die Rechnungen ein, allerdings nur in Höhe von 80 % des sich aus Mengenvordersatz und Einheitspreis errechnenden Betrages. Bei den Nachträgen NL 1 und 3 vert...

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