Leitsatz (amtlich)

1. Im Falle des Auffahrunfalls ist der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden entkräftet, wenn sich die Kollision in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel (§ 7 Abs. 5 StVO) ereignet hat.

2. Wechselt ein Polizeifahrzeug, das nach § 35 Abs. 1 StVO von den Vorschriften der StVO entbunden ist, den Fahrstreifen, um diesen für den Berufsverkehr freizugeben und setzt sich so dicht vor das in langsamer Fahrt befindliche, durch Polizeikelle zum Anhalten aufgeforderte Fahrzeug, dass dieses auffährt, so steht diese Fahrweise des Polizisten außer Verhältnis zu dem unmittelbar verfolgten Zweck.

3. Die dem Sonderrechtsfahrer, der nach § 35 Abs. 1 StVO von Vorschriften der StVO befreit ist, gem. § 35 Abs. 8 obliegende Sorgfaltspflicht ist umso größer, je mehr seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen darf, die Unfallgefahr erhöht.

4. Das Berufungsgericht muss die in erster Instanz vernommenen Zeugen nur dann nochmals vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als das Erstgericht (§§ 529 Abs. 1 Nr. 1, 525, 398 ZPO).

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Aktenzeichen 41 O 193/09)

 

Tenor

Der Senat beabsichtigt, die Berufung gem. § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.

 

Gründe

Der Kläger macht gegen das beklagte Land Schadensersatzansprüche wegen eines Verkehrsunfalls mit einem Zivilstreifenfahrzeug geltend.

Der Kläger befuhr am 13.10.2008 mit seinem Pkw (BMW) den Kaiserdamm in Berlin-Charlottenburg in östlicher Richtung auf dem zweiten Fahrstreifen von links. Zum Zwecke einer polizeilichen Kontrolle wurde ihm kurz vor der Ampel an der kreuzenden Wundtstraße von Polizeibeamten aus einem links und aus einem rechts neben ihm fahrenden zivilen Polizeifahrzeug eine Polizeikelle mit der Aufschrift "Halt!" gezeigt. Der rechts neben dem Kläger fahrende Polizeibeamte, der Zeuge D..., steuerte sein Kfz vor den Pkw des Klägers in dessen Fahrstreifen. Als er sich teils in dem Fahrstreifen des Klägers, teils noch in dem rechts davon gelegenen Fahrstreifen befand, kam es zu einer Kollision der beiden Kfz, bei der die vordere rechte Ecke des klägerischen und die hintere linke Ecke des Polizeifahrzeugs aneinanderstießen.

Die Nettoreparaturkosten des klägerischen Kfz beliefen sich laut Sachverständigengutachten auf 2.512,24 EUR. Die Kosten für die Begutachtung betrugen 429,71 EUR. Der Beklagte erstattete unter Verrechung der Hälfte des an seinem Kfz entstandenen Schadens 1.151,14 EUR. Der Kläger hat den Ersatz des Differenzbetrages zzgl. einer Kostenpauschale i.H.v. 20 EUR verlangt.

Der Kläger hat behauptet, er sei aus dem fließenden Verkehr gestoppt worden und das Polizeifahrzeug habe sein Fahrzeug beim Einlenken nach links gestreift.

Der Beklagte hat behauptet, der Kläger habe die Schäden verursacht und verschuldet, indem er mit seinem zuvor stehenden Fahrzeug angefahren und gegen das sich vor ihm befindende Polizeifahrzeug gestoßen sei.

Das LG hat nach Beweiserhebung durch Einvernahme der Zeugen Ö., D. und S. sowie Anhörung des Klägers der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, an den Kläger 1.810,81 EUR zu zahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Dem Kläger stehe ein Schadensersatzanspruch gem. § 7 Abs. 1 StVG zu. Bei der Abwägung gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG trete die einfache Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs hinter der durch das Verschulden des Fahrers erhöhten Betriebsgefahr des Polizeifahrzeugs zurück. Dem Beklagten sei es nicht gelungen, den gegen den Zeugen D. sprechenden Beweis des ersten Anscheins, bei seinem Fahrstreifenwechsel und der Kollision mit dem Klägerfahrzeug im nachfolgenden Verkehr den besonderen Sorgfaltspflichten des § 7 Abs. 5 StVO nicht nachgekommen zu sein, zu widerlegen oder zu erschüttern.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er weiterhin die Klageabweisung erstrebt. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus:

Die dem Beklagten vom LG zugewiesene Haftung von 100 % sei nicht zu rechtfertigen.

Das LG habe einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Zeugen D. angenommen. Ein konkreter typischer Geschehensablauf, der Voraussetzung eines Anscheinsbeweises sei, liege hier aber nicht vor, weil nicht typisch sei, dass ein Kfz mittels Anhaltekellen gestoppt werde und auch nicht, dass ein Fahrer, der die Anhalteanweisung wahrgenommen habe, sein Kfz ausrollen oder anrollen lasse.

Ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger, der im Ausrollen aufgefahren sei, sei nicht geprüft worden.

Die Aussagen der Zeugen seien, anders als das LG angenommen habe, nicht gleichwertig. Die Aussagen der Polizeibeamten seien zu Unrecht in Zweifel gezogen worden. Die Aussagen des Zeugen Ö. und des Klägers seien hingegen nicht auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft worden. Die Beweiswürdigung verstoße daher gegen § 286 ZPO.

Die Behauptung des Klägers, das Polizeifahrzeug habe den klägerischen Pkw gestreift, werde durch die Schäden an diesem widerlegt. Es sei aus...

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