Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsanwaltsvergütung: Ermittlung der Gebührenforderung im sozialgerichtlichen Verfahren. Gebührenermäßigung wegen Vorbefassung. Tätigwerden in einem behördlichen Eilverfahren als Vorbefassung

 

Orientierungssatz

War ein Rechtsanwalt für eine Partei nicht nur in einem gerichtlichen Eilverfahren, sondern in derselben Sache zuvor auch in einem behördlichen Eilverfahren tätig, so kommt für die Feststellung der Vergütung der ermäßigte Gebührensatz aus Nr. 3103 VV-RVG zur Anwendung. Dies gilt selbst dann, wenn zwar in den jeweiligen Verfahren die Streitgegenstände nicht identisch waren, jedoch durch die Vorbefassung Synergieeffekte gewonnen werden, die dem gesetzlichen Leitbild der Gebührenvorschrift vergleichbar sind.

 

Tenor

Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 7. Juli 2011 wird zurückgewiesen.

 

Gründe

Der Senat hat die Beschwerde durch seine Berufsrichter entschieden, nachdem die Berichterstatterin das Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung nach §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz 2 RVG auf den Senat übertragen hatte.

Die Beschwerde ist zulässig. Die Beschwerdefrist ist eingehalten und der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 200,00 €.

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.

Dem Beschwerdeführer steht, wie das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss zu Recht entschieden hat, gegenüber der Staatskasse für seine Tätigkeit im Verfahren vor dem Sozialgericht Kassel S 5 AS 73/10 ER eine Vergütung in Höhe von insgesamt 845,61 € zu.

Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) erhält der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt grundsätzlich die gesetzliche Vergütung von der Staatskasse. Dieser Vergütungsanspruch ist gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 RVG nach seinem Grund und seiner Höhe von dem Umfang der Beiordnung abhängig. Der beigeordnete Rechtsanwalt kann sämtliche Gebühren und Auflagen beanspruchen, die sich aus seiner Tätigkeit ab Wirksamwerden seiner Beiordnung und unter der Voraussetzung einer wirksamen Vollmacht des begünstigten Beteiligten ergeben.

Für seine Tätigkeit in dem einstweiligen Anordnungsverfahren S 5 AS 73/10 ER steht dem Beschwerdeführer zunächst eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV-RVG) zu. Entgegen seiner Auffassung ist der Gebührentatbestand der Nr. 3102 VV-RVG vorliegend nicht einschlägig. Denn der Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV-RVG mit dem gesenkten Betragsrahmen ist nach der Struktur der Betragsrahmenvorschriften gegenüber der Nr. 3102 VV-RVG eine vorrangige Sondervorschrift, die dann zur Anwendung kommt, wenn der Tätigkeit des Rechtsanwalts im gerichtlichen Verfahren eine solche im Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist. Anlass für diese gesetzliche Herabsetzung der Gebührenrahmenhöhe ist nach der Begründung des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 15, 1971 S. 212) ein Synergieeffekt, der in der tatsächlichen und rechtlichen Vorbefassung mit einer Rechtsangelegenheit angelegt ist. Maßgebender Anknüpfungspunkt für die Auslegung des Anwendungsbereichs des Gebührentatbestands der Nr. 3103 VV-RVG ist mithin die Frage nach dem ersparten Arbeitsaufwand und der Arbeitserleichterung durch die einem gerichtlichen Verfahren vorangegangene Befassung im Verwaltungsverfahren.

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV-RVG nicht nur auf Hauptsacheverfahren mit vorgeschaltetem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren zur Anwendung kommt, sondern auch auf Fallkonstellationen, in denen der Rechtsanwalt vor einem gerichtlichen Eilverfahren in einem behördlichen Eilverfahren tätig war (stdRspr, vgl. HLSG, Senatsbeschluss vom 25. Mai 2009 - L 2 SF 50/09 E - ; Thüringer LSG, Beschluss vom 15.03.2011 - L 6 SF 975/10 B - m. w. n.; LSG NW, Beschluss vom 03.12.2007 - L 20 B 66/07 AY -; zitiert nach juris). Beiden Fallgruppen ist jeweils ein im Wesentlichen gleicher Streitgegenstand gemein, der sich sowohl auf das Verwaltungs- als auch auf das Gerichtsverfahren erstreckt (vgl. dazu: Beschluss des erkennenden Senats vom 29. April 2010 - L 2 SF 37/09 E -). Dabei reichen Vorkenntnisse über den Sachverhalt im Sinne eines inneren sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs der Tätigkeiten aus, um durch die Bearbeitung einen Synergieeffekt für den Rechtsanwalt anzunehmen.

Das in der dargestellten Struktur der Betragsrahmenvorschriften zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Anliegen rechtfertigt es in der konsequenten Fortführung dieses Rechtsgedankens, auch dann den Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV-RVG vorrangig zur Anwendung zu bringen, wenn zwar der Streitgegenstand in dem behördlichen und der im gerichtlichen Verfahren insoweit inkongruent ist, als jeweils einer in einem Eil- und einer in einem Hauptsacheverfahren gebildet wird, aber die mit der Vorbefassung der Streitsache im behördlichen Verfahren gewonnenen Synergieeffekte mit denen in den anerkannten Fallgruppen der Gebührenziffer Nr. 3103 VV-RVG in etwa gleichwertig und gleichrangig abg...

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