Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Berufungsbegründung. Verhaltensbedingte Kündigung. Grund für eine verhaltensbedingte Kündigung. Umfassende Interessenabwägung vor der Kündigung. Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Berufungsbegründung muss die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Sie muss auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen und tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen. Bloße formelhafte Wendungen oder Wiederholungen bisherigen Vorbringens reichen nicht aus.

2. Eine Kündigung ist i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist.

3. Setzt sich eine Pflegekraft im Seniorenheim trotz Abmahnung mehrfach über die Quarantäne- und Hygienevorschriften während der COVID-19-Pandemie hinweg, kann eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung gerechtfertigt sein.

4. Vor jeder Kündigung hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

5. § 102 Abs. 1 BetrVG begründet für den Arbeitgeber die Pflicht, dem zuständigen Betriebsrat den für die Kündigung maßgebenden Sachverhalt so genau und umfassend mitzuteilen, dass dieser ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in die Lage versetzt wird, die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich über eine Stellungnahme schlüssig zu werden.

 

Normenkette

KSchG § 1; ZPO § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2; BetrVG § 102 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Kassel (Entscheidung vom 23.09.2021; Aktenzeichen 1 Ca 449/20)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 23. September 2021 – 1 Ca 449/20 – wird verworfen, soweit sie sich gegen die Abweisung der allgemeinen Feststellungsklage wendet.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung hat die Klägerin zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten auch in der Berufungsinstanz über den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses, insofern um die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung und um Weiterbeschäftigung.

Die Beklagte betreibt ein Seniorenheim mit zum Kündigungszeitpunkt 77 Bewohnern in unterschiedlichem Gesundheitszustand. Sie beschäftigt 86 Arbeitnehmer. Bei ihr besteht ein Betriebsrat.

Die 1965 geborene, mit einem GdB 70 schwerbehinderte Klägerin war bei der Beklagten seit dem 1. Oktober 2013 als Pflegehilfskraft mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von zuletzt ca. 1890,25 EUR brutto beschäftigt.

Mit zwei Schreiben vom 14. Dezember 2020, eines der Klägerin am gleichen Tag zugegangen, eines ihrem Prozessbevollmächtigten am Folgetag, kündigte die Beklagte der Klägerin das Arbeitsverhältnis ordentlich verhaltensbedingt zum 28. Februar 2021.

Wegen des erstinstanzlichen Parteivorbringens, ihrer Anträge, des vom Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des arbeitsgerichtlichen Verfahrens wird im Übrigen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das Arbeitsgericht Kassel hat Beweis über die Frage erhoben, ob die Klägerin am 28. April 2021 im Rahmen einer Schulungsveranstaltung darauf hingewiesen worden ist, dass in den Quarantänezimmern keine Besucher zugelassen sind und ob sie am 27. Juli 2020 gegen 16:30 Uhr drei Angehörige in das Zimmer eines in Quarantäne befindlichen Bewohners gelassen hat durch die Vernehmung der Zeuginnen A und B (Beweisbeschluss Bl. 216 d.A.). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 5. August 2021 (Bl. 242 – 245 d.A.) Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Kassel hat die Klage mit Schlussurteil vom 5. August 2021 hinsichtlich des allgemeinen Feststellungsantrags als unzulässig und hinsichtlich der Kündigungsschutzklage als unbegründet abgewiesen. Die Abweisung der allgemeinen Feststellungsklage hat das Arbeitsgericht damit begründet, dass mangels weiteren in Betracht kommenden Beendigungstatbestandes kein Feststellungsinteresse gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 256 Abs.1 ZPO bestehe.

Hinsichtlich der Kündigungsschutzklage ist das Arbeitsgericht von einer einheitlichen Kündigungserklärung vom 14. Dezember 2020 ausgegangen, deren Zugang lediglich auf doppelte Weise habe bewirkt...

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