In der Literatur gehen die Meinungen z.T. weit auseinander:

aa) Grunewald[18] folgt einer streng objektiven Sichtweise und verlagert subjektive Elemente in den Bereich des Einverständnisses. Zur Begründung zieht sie § 3 Abs. 2 S. 1 BORA heran, wonach das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen unter besonderen Umständen nicht gelte, wenn sich im Einzelfall die betroffenen Mandanten ausdrücklich einverstanden erklärt hätten. Damit werde deutlich, dass bei der Bestimmung, wann überhaupt widerstreitende Interessen vorlägen, dieses Einverständnis noch keine Rolle spiele. Vielmehr werde es nach einer objektiven Bestimmung des Interessengegensatzes erst als tatbestandsausschließendes Einverständnis berücksichtigt.

bb) Nach einer vermittelnden Auffassung entscheidet "die durch den Auftrag der Parteien abgegrenzte wirkliche Interessenlage, die aber ihrerseits vom Willen der Parteien gestaltet wird". Eine abweichende Beurteilung dieser Lage durch die Parteien sei ebenso bedeutungslos wie ihre Einwilligung in ein pflichtwidriges Handeln des Vertreters, es sei denn, dass die Einwilligung Interessengegensatz und Pflichtwidrigkeit aufhebe.[19]

cc) Deckenbrock[20] unterscheidet zwischen der Bestimmung der Interessen der Parteien, die subjektiv erfolgen müsse, und der Feststellung eines Interessengegensatzes aufgrund eines objektiven Vergleichs der vom Mandanten vorgegebenen subjektiven Interessen. Wenn der Mandant die Interessen so gestalte, dass sie sich nicht mehr im Widerspruch zu denen der anderen Partei befänden, könne eine Gefahr für die individuellen Interessen der betroffenen Mandanten von vornherein nicht bestehen. Erst recht könne dann das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität der Anwaltschaft nicht enttäuscht werden. Dass die Bevölkerung u.U. die subjektiven Interessenlagen nicht ohne Weiteres beurteilen könne, dürfe insoweit keine Rolle spielen. Eine solche Anknüpfung würde nichts anderes als ein verfassungsrechtlich unzulässiges Anscheinsverbot darstellen.

dd) Kleine-Cosack[21] hält die subjektive Sicht für geboten, weil § 43a Abs. 4 BRAO auch eine Schutznorm des Mandanten sei. Der Mandant und nicht der Anwalt bestimme mit der Mandatserteilung, welche Interessen zu vertreten seien.

ee) Eine streng subjektive Bewertung fordert Gillmeister.[22] Schon der Begriff "Interesse" spreche für eine subjektive Sicht. Den Vertretern der objektiven Beurteilung sei entgegenzuhalten, dass besonders zu Beginn von beratungsintensiven Mandaten ein Parteiinteresse noch nicht objektivierbar sei. In vielen Fällen ändere sich das Parteiinteresse im Laufe des Mandats je nach Beurteilung der Erfolgsaussichten und mit der Dauer und den Kosten der Mandatsführung. Eine Partei, die ihren Rechtsbeistand z.B. mit der unbedingten Durchsetzung einer Forderung beauftragt habe und sich erst während des Rechtsstreits vergleichsbereit zeige, bestimme und wechsle ihre Parteiinteressen autonom. Die subjektive Interessenbestimmung des Mandanten, die auch dem Rat des Rechtsbeistands zuwiderlaufen könne, folge der Dispositionsfreiheit über den Mandatsgegenstand. Nur der Auftraggeber entscheide, welche Interessen er seinem Rechtsbeistand anvertrauen wolle und mit welchem Ziel seine rechtlichen Belange verfolgt werden sollten.

ff) Dem stimmt auch Henssler[23] zu. Das Interesse sei schon dem Begriff nach ein subjektiv bestimmtes Tatbestandsmerkmal. Dementsprechend sei es auch der Mandant und nicht der Anwalt, der mit der Mandatserteilung bestimme, welche Interessen zu vertreten seien. Für einen solchen subjektiv verstandenen Interessenbegriff streite auch der von der Norm bezweckte Schutz des Vertrauensverhältnisses, der eine mandantenbezogene Sichtweise des Interessenbegriffs nahelege. Der Anwalt habe den Willen des Mandanten zu respektieren, sofern er dies mit seinen Rechtspflichten und seinem Berufsethos vereinbaren könne. In diesen Fällen müsse der Anwalt das subjektiv geprägte Mandanteninteresse vertreten.

Henssler[24] ist dabei sogar der Auffassung, dass bei einer subjektiven Bestimmung der Interessen ein Interessengleichlauf und eben kein Interessenwiderstreit bestehe, wenn sich Eheleute über die Voraussetzungen und Grundlagen des Auseinandergehens geeinigt hätten, bevor sie gemeinsam einen Rechtsanwalt aufsuchten. Weiterhin sei eine gemeinsame Beratung durch den Rechtsanwalt auch nicht berufswidrig, wenn die Eheleute zwar mit gegenläufigen Interessen den Anwalt aufsuchten, aber mit seiner Hilfe eine gemeinsame Übereinkunft finden wollten. In diesem Fall stünden sich die Interessen zunächst subjektiv gegensätzlich gegenüber, der Anwalt werde jedoch im gemeinsamen Interesse tätig und erfülle damit die zentrale Aufgabe der Rechtspflege, unnötige Rechtsstreite zu vermeiden. Es stehe den Ehegatten frei, einverständlich einen Gleichlauf der Interessen herbeizuführen. Die Tatsache, dass der Richter an den übereinstimmenden Vortrag der Ehegatten zur Dauer des Getrenntlebens nicht gebunden sei, ändere nichts daran, dass jeder Mensch frei sei, ...

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