Die Zurechnung fiktiven Einkommens bei Arbeitsplatzverlust oder Stellenwechsel darf nicht dazu führen, eine zwar wünschenswerte, tatsächlich aber nicht bestehende Leistungsfähigkeit zu generieren.[33] Bei Aufgabe der Arbeitsstelle, aber auch bei Arbeitgeberkündigung, Stellenwechsel oder sonstiger beruflicher Veränderung, die sich nachteilig auf die Einkünfte auswirkt, ist deshalb zu prüfen, ob die dadurch herbeigeführte Leistungsunfähigkeit oder Leistungsminderung schuldhaft herbeigeführt wurde.[34] Voraussetzung für die Zurechnung fiktiven Einkommens ist mithin ein mutwilliger Verstoß gegen eine bestehende Erwerbsobliegenheit, d.h. eine verantwortungslose, zumindest leichtfertige Verletzung der Obliegenheit zur Einkommenserzielung,[35] wobei es sich um eine unterhaltsbezogene Mutwilligkeit handeln muss. Dies setzt voraus, dass der Unterhaltspflichtige die Möglichkeit des Eintritts der Leistungsunfähigkeit als Folge seines Verhaltens erkannt und im Bewusstsein dieser Möglichkeit, wenn auch im Vertrauen auf den Nichteintritt jener Folge agiert.[36] Auch muss es sich um ein schwerwiegendes und nicht nur leichtes Verschulden des Unterhaltspflichtigen bezogen auf die Kündigung handeln.[37] Dementsprechend ist eine tatsächlich eingetretene Leistungsunfähigkeit ggfs. auch dann beachtlich, wenn der Pflichtige sie selbst, unter Umständen sogar schuldhaft, verursacht hat.[38]

Von einer leichtfertigen Verhaltensweise ist insbesondere dann auszugehen, wenn der Pflichtige gegen die allgemeine Erwerbsobliegenheit vorsätzlich verstößt und dies im Bewusstsein der bestehenden Unterhaltspflicht. Hat der Pflichtige einen langjährigen Arbeitsplatz inne, so ist er infolge der Anordnung von Kurzarbeit erst nach einer Übergangszeit, die regelmäßig nicht vor einem Jahr abläuft, verpflichtet, sich nach einem anderen Arbeitsplatz umzusehen.[39] Einem Unterhaltspflichtigen kann auch der Umstand, dass er sich selbstständig macht und zunächst aus der selbstständigen Tätigkeit kein ausreichendes Einkommen erzielt, um der vollen Unterhaltsverpflichtung nachzukommen, allein kein unterhaltsrechtlicher Vorwurf gemacht werden. Allerdings bleibt zu prüfen, ob es ihm oblegen hätte, Rücklagen für die Übergangszeit zu bilden. Dem Unterhaltspflichtigen, der aus selbstständiger Tätigkeit über längere Zeit nur Verluste erzielt, obliegt es jedoch, die selbstständige Tätigkeit aufzugeben und in eine nichtselbstständige Tätigkeit zur Sicherstellung des Unterhalts zu wechseln.[40] Steht also fest, dass das Einkommen aus der gewählten Tätigkeit nachhaltig nicht auskömmlich sein wird, tritt das Recht zur freien Berufswahl gegenüber der unterhaltsrechtlichen Verantwortung zurück. In diesem Fall ist der Unterhaltspflichtige gehalten, im Rahmen seiner Möglichkeiten einer nachhaltigen bedarfsdeckenden Tätigkeit nachzugehen.[41] Aber auch dies gilt nicht ausnahmslos. Verfügte ein selbstständig Tätiger durchschnittlich über 3.000 EUR im Monat und sank in Folge der Corona-Pandemie sein Quartalseinkommen auf 1.700 EUR ab, ist von Leistungsunfähigkeit auszugehen. Angesichts der unvorhersehbaren Entwicklung war es ihm in dieser Situation nicht anzulasten, dass er keine Vorsorge durch die Bildung von Rücklagen getroffen oder sich bei der unsicheren Arbeitsmarktlage nicht um eine anderweitige Beschäftigung bemüht hat.[42] Generell konnte in Zeiten der Corona-Pandemie nicht – wie sonst – erwartet werden, dass Rücklagen gebildet werden, um die ausfallenden Einnahmen zu überbrücken, da die Auswirkungen und die Dauer der Pandemie nicht absehbar waren. Zudem konnte von Selbstständigen in Anbetracht der unsicheren und nicht prognostizierbaren wirtschaftlichen Lage nicht verlangt werden, dass sich diese in ein Angestelltenverhältnis begeben, zumal auch im Hinblick auf die Kurzarbeit ein Angestelltenverhältnis nicht die nötige Sicherheit gegeben hätte. Damit sind auch keine fiktiven Einkünfte anzurechnen.[43]

Die Aufgabe einer selbstständigen Tätigkeit mit unzureichenden Erträgen führt außerdem dann nicht zur Zurechnung eines höheren Einkommens, wenn der Betroffene aufgrund seiner Erwerbsbiografie, seines Alters, seiner gesundheitlichen Einschränkungen oder anderer Umstände auch bei einer abhängigen Beschäftigung keinen höheren Verdienst erreichen kann. Daher trifft den Unterhaltspflichtigen auch keine Obliegenheitsverletzung, wenn er eine Arbeitsstelle antritt, aus der er ein geringeres Einkommen als früher erzielt, sofern unter Berücksichtigung der Erwerbsbiografie, Qualifikation und persönlichen Verhältnisse das tatsächliche Einkommen dem erzielbaren entspricht.[44]

Grundsätzlich akzeptiert werden müssen (jedenfalls außerhalb der Sicherstellung des Mindestunterhalts für ein minderjähriges Kind) der Abbau von Überstunden oder die Aufgabe des Schichtdienstes. Bei Arbeitgeberkündigung ist ein Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage nur dann leichtfertig, wenn die Kündigung offensichtlich unbegründet war.

Hat der Unterhaltspflichtige berechtigterweise die Betreuung eines Kindes...

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