Der verspätete Vortrag hat in Familienstreitsachen in der Praxis eine viel geringere Bedeutung als in Zivilsachen.[47] Dies hat seinen Grund zum einen darin, dass nach § 113 Abs. 1 Satz 1 FamFG das Rechtsmittelrecht des FamFG auch für Familienstreitsachen gilt, wonach gem. § 65 Abs. 3 FamFG eine volle zweite Tatsacheninstanz existiert.[48] Daher können in erster Instanz präkludierte Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Beschwerdeinstanz erneut[49] oder auch erstmals vorgebracht werden.[50] § 115 Satz 2 FamFG verdrängt umfassend die Vorschriften über verspäteten Vortrag und die Zurückweisung von Angriffs- und Verteidigungsmitteln (erstinstanzlich: § 296 ZPO; zweitinstanzlich: §§ 530, 531, 533 ZPO;[51] zudem verweist § 117 Abs. 2 FamFG nicht auf die §§ 530, 531 ZPO[52]). Zum anderen sind die Voraussetzungen des § 115 FamFG weniger scharf als diejenigen der ZPO.[53] Denn in Familienstreitsachen tritt der Beschleunigungsgrundsatz der ZPO insoweit hinter dem öffentlichen Interesse an der materiellen Richtigkeit der Entscheidung zurück.[54] Während dies für Unterhaltsverfahren wegen des existenz- bzw. lebensstandardsichernden Charakters des Unterhalts unmittelbar einleuchtet, erscheint diese Privilegierung in sonstigen Familienstreitsachen überzogen.

[47] So zutreffend Prütting/Helms/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2022, § 115 Rn 3.
[48] Sternal/Weber, 21. Aufl. 2023, FamFG, § 117 Rn 5.
[49] BeckOK FamFG/Weber, 48. Ed. 1.11.2023, § 115 Rn 9; Sternal/Weber, 21. Aufl. 2023, FamFG, § 115 Rn 8; Musielak/Borth/Frank/Borth, 7. Aufl. 2022, FamFG, § 115 Rn 3; MüKo-FamFG/C. Fischer, 3. Aufl. 2018, § 115 Rn 5; OLG Jena BeckRS 2017, 129351. Dies ist in jedem Fall möglich, wenn der Sachvortrag schon in der Beschwerdebegründung nachgeholt wird, vgl. OLG Brandenburg FamRZ 2016, 1462.
[50] OLG Koblenz FamRZ 2021, 1371; Musielak/Borth/Frank/Borth, 7. Aufl. 2022, FamFG, § 115 Rn 3.
[51] Sternal/Weber, 21. Aufl. 2023, FamFG, § 115 Rn 10; Dutta/Jacoby/Schwab, FamFG, 4. Aufl. 2022, § 113 Rn 2.
[52] OLG Brandenburg, NZFam 2016, 745, 747.
[53] Sternal/Weber, 21. Aufl. 2023, FamFG, § 115 Rn 1.
[54] Dutta/Jacoby/Schwab, FamFG, 4. Aufl. 2022, § 113 Rn 1; BeckOK FamFG/Weber, 47. Ed. 1.8.2023, § 115 Rn 2; Prütting/Helms/Helms, 5. Aufl. 2022, FamFG, § 115 Rn 3.

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