Die Düsseldorfer Tabelle steht vor einem strukturellen Problem, das freilich nicht aus der Tabelle als solcher resultiert, sondern "von außen" an sie herangetragen wird, ohne dass die "Macher" der Unterhaltstabelle hierauf Einfluss nehmen könnten:

Die Schwierigkeiten zeigen sich in erster Linie beim starken Anstieg des Mindestunterhalts: Der Tabellenunterhalt in Gruppe 1, Altersstufe 2 – dem "Eckwert"[5] der Tabelle, auf dem diese aufbaut – betrug im Jahr 2008, beim Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform 2008, noch 322 EUR/Monat. In diesem Jahr – 2024 – ist der Wert bis auf 551 EUR/Monat angestiegen[6] – das sind etwa 70 % mehr bzw. ein absoluter Anstieg um + 229 EUR. Der Grund für diese große Steigerung liegt nicht allein an der hohen Inflationsrate: Zwar hat diese im Jahr 2022 ca. 6,9 % und im Jahr 2021 etwa 3,1 % betragen. Aber wenn man den Tabellenunterhalt des Jahres 2008 mit den seitherigen, historischen Preissteigerungsraten hochrechnet, kommt man auf einen Tabellenunterhaltsbetrag von "lediglich" 419 EUR, also auf eine Steigerung um "nur" etwa 30 %. Von der Steigerung des Tabellenunterhalts im Zeitraum zwischen 2008 und 2022[7] gehen überschlägig also etwa 40 Prozentpunkte auf "andere Faktoren" zurück. Zu diesen Einflussgrößen zählen in erster Linie Erhöhungen einzelner Bedarfspositionen bei Kindern[8] sowie die Anpassungen bei den Regelbedarfssätzen nach dem SGB II,[9] die sich über das steuerlich zu berücksichtigende, sächliche Existenzminimum (§ 1612a Abs. 1 Satz 2 BGB) unmittelbar auf die Höhe der Unterhaltsbedarfssätze nach § 1612a Abs. 1 Satz 3 BGB auswirken, die wiederum über das "Scharnier" der Mindestunterhaltsverordnung (§ 1612a Abs. 4 BGB) die Basis bilden, auf der die Werte der untersten Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle beruhen. Das Ausmaß, um das es hier geht, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass der Regelbedarf nach dem SGB II für einen Alleinstehenden, der 2023 noch 502 EUR/Monat betragen hat, im Jahr 2024 um etwa 12 % auf nunmehr 563 EUR/Monat angestiegen ist.[10]

Die strukturellen Herausforderungen, die sich daraus für die Tabelle ergeben, sind enorm: Das große Ansteigen des Unterhaltsbedarfs führt zusammen mit der Steigerung bei den Selbstbehaltssätzen der Tabelle dazu, dass Schuldner der ersten Einkommensgruppe selbst im "besten Fall" nur noch den (Tabellenunterhalts-) Bedarf eines einzigen minderjährigen Kindes abdecken können.[11] Den Unterhaltsbedarf eines volljährigen, sich in Ausbildung befindlichen Kindes kann ein Unterhaltsschuldner der ersten Gruppe überhaupt nur noch bewältigen, weil der Bedarfssatz der vierten Altersstufe um das volle Kindergeld von 250 EUR/Monat zu kürzen ist (§ 1612b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB). Alles andere sind Mangelfälle. Eine weitere Verschärfung der Situation ergibt sich aus den Folgen der Inflation: Das starke Anwachsen der Inflation in den vergangenen beiden Jahren hat in den Tarifrunden zu verhältnismäßig hohen Lohn- und Gehaltsabschlüssen geführt.[12] Der nominelle Verdienstzuwachs, den ein Arbeitnehmer im Allgemeinen begrüßen wird, kann bei einem Unterhaltsschuldner jedoch zu einem Aufstieg in die nächsthöhere Einkommensgruppe und damit zu einem Anwachsen seiner Unterhaltslast führen, der keine "echte" Gehaltssteigerung gegenübersteht, sondern nur ein Gehaltszuwachs als Folge einer allgemeinen Preissteigerung.[13]

[5] Kritisch zur Determinierung des unterhaltsrechtlichen Lebensbedarfs durch vom sozialen Rechtsstaat vorgegebene, nach statistischen Maßgaben und Erkenntnissen erarbeitete "Eckwerte" dagegen Köhler, FamRZ 1990, 922 (922, 924).
[6] Vgl. Sechste Verordnung zur Änderung der Mindestunterhaltsverordnung vom 29.11.2023, BGBl I Nr. 330 vom 30.11.2023.
[7] Der Vergleich beschränkt sich auf den Zeitraum bis 2022, weil die Inflationsrate für 2023 bei Redaktionsschluss dieses Beitrags noch nicht vorlag.
[8] Beispielsweise die staatlichen Transferleistungen für Bildung und Teilhabe nach §§ 28 SGB II, 34 SGB XII.
[9] Vgl. dazu bereits sehr deutlich die Stellungnahme der Unterhaltskommission von Juni 2021: Niepmann/Denkhaus/Schürmann, FamRB 2021, 349 (349) = FamRZ 2021, 923 (923).
[10] Vgl. Regelbedarfsstufen-FortschreibungsVO 2024 vom 24.10.2023, BGBl I Nr. 287 vom 27.10.2023 und die Begründung der Rechtsverordnung BR-Drucks. 454/23 vom 14.9.2023. Vgl. auch den Hinweis in FamRB 2023, 481.
[11] Vgl. den instruktiven "Problemaufriss" bei Seiler, FamRZ 2023, 329 (332). Auf die Problematik hat die Unterhaltskommission bereits in ihrer Stellungnahme von Juni 2021 deutlich hingewiesen; vgl. Niepmann/Denkhaus/Schürmann, FamRB 2021, 349 (349) = FamRZ 2021, 923 (923).
[12] Das hat zu einer Änderung beim Mindestlohn geführt, der von bislang 12,00 EUR zum 1.1.2024 auf 12,41 EUR brutto/Stunde angestiegen ist (vgl. Vierte Verordnung zur Anpassung des Mindestlohns (Vierte Mindestlohnanpassungsverordnung) vom 24.11.2023, BGBl I 2023 Nr. 321 vom 29.11.2023.
[13] Für den Unterhaltsberechtigten gilt allerdings Entsprechendes: Als Folge der Inflation...

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