Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Rechtsangleichung. Tragweite der Pflicht der nationalen Finanzaufsichtsbehörden zur Wahrung des Berufsgeheimnisses. Begriff ‚vertrauliche Information’

 

Normenkette

Richtlinie 2004/39/EG Art. 54 Abs. 1

 

Tenor

1. Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates ist dahin auszulegen, dass weder alle Informationen, die das überwachte Unternehmen betreffen und von ihm an die zuständige Behörde übermittelt wurden, noch alle in der Überwachungsakte enthaltenen Äußerungen dieser Behörde, einschließlich ihrer Korrespondenz mit anderen Stellen, ohne weitere Voraussetzungen vertrauliche Informationen darstellen, die infolgedessen von der in dieser Vorschrift aufgestellten Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses gedeckt sind. Als vertraulich einzustufen sind die den Behörden, die von den Mitgliedstaaten zur Erfüllung der in der Richtlinie vorgesehenen Aufgaben benannt wurden, vorliegenden Informationen, die erstens nicht öffentlich zugänglich sind und bei deren Weitergabe zweitens die Gefahr einer Beeinträchtigung der Interessen der natürlichen oder juristischen Person, die sie geliefert hat, oder der Interessen Dritter oder des ordnungsgemäßen Funktionierens des vom Unionsgesetzgeber durch den Erlass der Richtlinie 2004/39 geschaffenen Systems zur Überwachung der Tätigkeit von Wertpapierfirmen bestünde.

2. Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 ist dahin auszulegen, dass die Vertraulichkeit von Informationen, die das überwachte Unternehmen betreffen und den von den Mitgliedstaaten zur Erfüllung der in der Richtlinie vorgesehenen Aufgaben benannten Behörden übermittelt wurden, zu dem Zeitpunkt zu beurteilen ist, zu dem diese Behörden ihre Prüfung im Rahmen der Entscheidung über den Antrag auf Zugang zu den betreffenden Informationen vornehmen müssen, unabhängig davon, wie sie bei ihrer Übermittlung an diese Behörden einzustufen waren.

3. Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 ist dahin auszulegen, dass die den Behörden, die von den Mitgliedstaaten zur Erfüllung der in der Richtlinie vorgesehenen Aufgaben benannt wurden, vorliegenden Informationen, die möglicherweise Geschäftsgeheimnisse waren, aber mindestens fünf Jahre alt sind, aufgrund des Zeitablaufs grundsätzlich als nicht mehr aktuell und deshalb als nicht mehr vertraulich anzusehen sind, es sei denn, die Partei, die sich auf die Vertraulichkeit beruft, weist ausnahmsweise nach, dass die Informationen trotz ihres Alters immer noch wesentliche Bestandteile ihrer eigenen wirtschaftlichen Stellung oder der von betroffenen Dritten sind. Diese Erwägungen gelten nicht für die diesen Behörden vorliegenden Informationen, deren Vertraulichkeit aus anderen Gründen als ihrer Bedeutung für die wirtschaftliche Stellung der fraglichen Unternehmen gerechtfertigt sein könnte.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. November 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2016, in dem Verfahren

Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht

gegen

Ewald Baumeister,

Beteiligter:

Frank Schmitt als Insolvenzverwalter der Phoenix Kapitaldienst GmbH,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter), C. G. Fernlund und C. Vajda, der Richter J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterin A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, vertreten durch R. Wiegelmann als Bevollmächtigten,
  • von Herrn Baumeister, vertreten durch Rechtsanwalt P. A. Gundermann,
  • von Herrn Schmitt als Insolvenzverwalter der Phoenix Kapitaldienst GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt A. J. Baumert,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller und D. Klebs als Bevollmächtigte,
  • der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi und N. Grünberg als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und B. Koopman als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, B. Majerczyk-Graczykowska und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,
  • der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Simmons und Z. Lavery als Bevollmächtigte im Beistand von V. Wakefield und S. Ford, Barristers,
  • der Europäischen Komm...

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