1. Begriffsbestimmung

 

Rz. 346

Dass laufende Einkünfte im Regelfall der Einkommensteuer unterliegen, ist kein Geheimnis und im Grunde auch nichts Neues. Daneben können aber auch (in einer zunehmenden Zahl von Konstellationen) Gewinne im Rahmen der Veräußerung von Vermögensgegenständen, insbesondere solcher, mit deren Hilfe Einkünfte erzielt wurden, einkommensteuerpflichtig sein. Dies gilt nicht nur bei der Veräußerung von Betriebsvermögen (§ 16 EStG), von sog. wesentlichen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) und Immobilien, für die die Spekulationsfrist noch nicht abgelaufen ist (§ 23 EStG), sondern – seit Einführung der Abgeltungssteuer im Jahr 2009 – auch für Kapitalanlagen, insbesondere (unabhängig von der Haltedauer) Wertpapiere (Aktien, Investmentfonds etc.), § 20 Abs. 2 EStG.[914]

 

Rz. 347

Eine Einkommensteuer, die bei einer (späteren) Veräußerung einmal anfallen wird, am Bewertungsstichtag aber (mangels Verkaufsfalls) noch nicht angefallen (im steuerlichen Sinne "entstanden") ist, wird gemeinhin als latente Steuer bezeichnet. Der Begriff ist indes nicht wirklich glücklich gewählt, denn § 274 Abs. 1 S. 1 HGB definiert (passive) latente Steuern als Differenzen zwischen handelsrechtlichen und steuerlichen Wertansätzen (insbesondere von Vermögensgegenständen), die sich in späteren Geschäftsjahren voraussichtlich abbauen werden.

 

Rz. 348

Hierum geht es aber bei den im pflichtteilsrechtlichen Kontext interessierenden künftig anfallenden Steuerbelastungen nicht. Denn Differenzen zwischen handels- bzw. zivilrechtlichen und steuerrechtlichen Wertansätzen spielen, pflichtteilsrechtlich betrachtet, keine Rolle. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, nicht von latenten, sondern vielmehr von zukünftigen oder fiktiven zukünftigen Steuerbelastungen zu sprechen.

Um zukünftige Steuerbelastungen geht es dann, wenn der Bewertung des Nachlassvermögens bzw. einzelner Gegenstände ein tatsächlich zeitnah zum Erbfall eintretendes Veräußerungsszenario zugrunde zu legen ist, um fiktive zukünftige Steuerbelastungen dann, wenn eine tatsächliche Veräußerung nicht absehbar ist.[915]

[914] Schmid, ZErb 2015, 133, 136.
[915] Vgl. auch BeckOGK/Blum, § 2311 Rn 196.

2. Berücksichtigung fiktiver Steuern dem Grunde nach

a) Wirtschaftlicher Hintergrund

 

Rz. 349

Der BGH hat einen Abzug fiktiver (von ihm natürlich als latent bezeichneter) Steuerlasten als Nachlassverbindlichkeiten bereits im Jahre 1972 kategorisch ausgeschlossen.[916] Gleichzeitig stellte er aber fest, dass eine Berücksichtigung z.B. im Rahmen der Bewertung (im seinerzeitigen Fall konkret einer Unternehmensbewertung) angebracht sei bzw. wenigstens sein könne.[917] Das gelte insbesondere dann, wenn die Auflösung der stillen Reserven durch Verkauf absehbar oder sogar vom Erblasser angeordnet sei.

Auch in späteren Entscheidungen hat der BGH mehrfach bestätigt, dass fiktive Steuern im Rahmen der Bewertung zu berücksichtigen seien, wenn der Wert der betreffenden Nachlassgegenstände nur durch Verkauf realisiert werden könne.[918] Dies muss umso mehr gelten, wenn die Steuerlast bei einer tatsächlich nach dem Erbfall erfolgenden Veräußerung nicht fiktiv bzw. "latent" bleibt, sondern real wird.[919]

 

Rz. 350

Dieser Sichtweise kann man weder unter rechtlichen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten viel entgegenhalten. Zu Recht hat der BGH dabei in der Vergangenheit auch regelmäßig auf das zugrunde zu legende Verwertungsszenario abgestellt.[920] Denn ohne einen tatsächlichen (oder wenigstens unterstellten) Verkauf des jeweiligen Vermögensgegenstands kommt es zu keiner (zukünftigen) Besteuerung eines etwaigen Veräußerungsgewinns. Die Steuer bleibt dann dauerhaft fiktiv.

Zunehmend zeigt der BGH jedoch die Tendenz, im Rahmen des Pflichtteilsrechts ebenso wie im Recht des Zugewinnausgleichs (wenigstens fiktiv) eine Versilberung des Nachlassvermögens am Bewertungsstichtag (Todestag des Erblassers) zu unterstellen.[921]

 

Rz. 351

Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass immer dann, wenn eine zukünftige Veräußerung das maßgebliche Verwertungsszenario bildet, auch die zukünftige bzw. die fiktive zukünftige Steuerbelastung in die Bewertung einfließen muss. Denn ohne diese Steuerbelastung in Kauf zu nehmen (auszulösen), ist eine Realisierung des Veräußerungspreises nicht möglich.[922] Dies gilt jedenfalls dann, wenn "jedermann", also der Erblasser und der Erbe auf der einen ebenso wie der Pflichtteilsberechtigte (wenn er Erbe geworden wäre) auf der anderen Seite, dem Grunde nach dieser Besteuerung unterläge bzw. unterliegt.

[917] Der BGH verwies dabei auf Bankmann, Wpg 1959, 148 ff.; Peupelmann, DB 1961, 1397 ff. m.w.N.
[918] BGH NJW 1982, 2497, 2498; BGH FamRZ 1986, 776; BGHZ 98, 382, 389; ebenso OLG München NJW-RR 2003, 1518, 1519; a.A. aber Daragan, ZErb 2015, 329, 331 f.
[919] Riedel, ErbR 2018, 362, 368; ebenso Schmid, ZErb 2015, 133, 135.
[920] BGH NJW 1972, 1269, 1270; MüKo/Lange, § 2311 Rn 41.

b) Dogmatische Einordnung

 

Rz. 352

Entgegen der Auffassung des BGH, dass die latente (oder fiktive) Steuer im Rahmen der Bewertung der...

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