Rz. 22

Die geschilderten Bewertungsregeln gelten nach wohl h.M.[87] auch für aufschiebend bedingte Vermächtnisse, bei denen im Bewertungszeitpunkt noch gar nicht absehbar ist, ob die Bedingung jemals eintreten wird.[88] Als Ausweg aus dem Dilemma, einerseits den wirtschaftlichen Wert des Vermächtnisses noch nicht abschätzen zu können, anderseits aber durch Zuwarten die Verjährung des Pflichtteilsanspruchs zu riskieren, schlägt Mayer[89] vor, mit dem oder den Erben eine Verjährungsvereinbarung nach § 202 Abs. 2 BGB zu treffen, um dann die weitere Entwicklung abwarten zu können. Auch wenn dies theoretisch ein gangbarer Weg zu sein scheint, setzt seine praktische Umsetzung doch eine zwischen den Beteiligten nur sehr selten bestehende Einigkeit voraus. Vor diesem Hintergrund wird der Pflichtteilsberechtigte in den meisten Fällen um eine Entscheidung, wenn auch aufgrund unzureichender Informationen, nicht herumkommen.

 

Rz. 23

Teilweise[90] wird auch vertreten, der Pflichtteilsberechtigte müsse berechtigt sein, auch ohne Ausschlagung den vollen Pflichtteil zu fordern; bei Bedingungseintritt habe er sich jedoch den erhaltenen Pflichtteil auf seine Vermächtnisforderung anrechnen zu lassen.[91] Im Ergebnis ist die Situation hier jedoch nicht anders als im Falle der aufschiebend bedingten Nacherbeneinsetzung. Diese ist gem. § 2306 Abs. 2 BGB als eine Beschwerung der Erbeinsetzung anzusehen. Dogmatisch durchschlagende Gründe, die aufschiebende Vermächtnisanordnung anders zu beurteilen, sind nicht ersichtlich, zumal auch der Wortlaut von Abs. 1 auf keinerlei Differenzierung schließen lässt.[92] Im Übrigen ist weder einzusehen, warum in diesem Fall ein geringeres Interesse der Nachlassbeteiligten an einer raschen Abwicklung des Nachlasses (gerade hierauf zielt § 2307 BGB grundsätzlich ab) bestehen sollte,[93] noch warum der Pflichtteilsberechtigte gerade in dieser Konstellation die Möglichkeit haben sollte, sich durch bloßes Abwarten der weiteren Entwicklungen das für ihn optimale Ergebnis zu sichern. Möglichkeiten, einmal getroffene Ausschlagungsentscheidungen zu revidieren, stellt – in den dort aufgezeigten Grenzen – § 2308 BGB zur Verfügung; darüber hinausgehende Möglichkeiten hat der Gesetzgeber offenbar nicht gewollt.

 

Rz. 24

Nicht weniger problematisch als aufschiebende können auch auflösende Bedingungen sein. So sind bspw. Anordnungen denkbar, denen zufolge der dem Pflichtteilsberechtigten zugewendete Vermächtnisanspruch wegfallen soll, wenn er einen etwaigen Pflichtteilsrestanspruch einfordert. Hier stellt sich die Frage, ob der Pflichtteilsberechtigte das Vermächtnis ausschlagen muss, um zum vollen Pflichtteilsanspruch zu gelangen (ein etwaiger Pflichtteilsrestanspruch steht ihm selbstverständlich auch bei Annahme des Vermächtnisses zu), oder ob ihm auch der spätere Wegfall des Vermächtnisses – aufgrund Bedingungseintritts – den Weg zur Pflichtteilsgeltendmachung eröffnet. Im Ergebnis ist auch hier nicht einzusehen, warum dem Pflichtteilsberechtigten ein gefahrloses Zuwarten ermöglicht und die Pflichtteilsgeltendmachung nach Eintritt der auflösenden Bedingung – und trotz vorheriger Annahme des so beschwerten Vermächtnisses – ermöglicht werden sollte. Dies gilt umso mehr, als das Risiko des späteren Wegfalls des Vermächtnisses sich unmittelbar aus der letztwilligen Verfügung des Erblassers ergibt und somit dem Pflichtteilsberechtigten von Anfang an bekannt ist. Es ist ihm also ohne weiteres zuzumuten, eine Risikoabwägung zu treffen und zu entscheiden, ob er das Vermächtnis – mit allen etwa bestehenden Beschränkungen – annehmen (und hierdurch den vollen Pflichtteilsanspruch verlieren) oder ausschlagen möchte, um den Pflichtteil geltend zu machen.[94]

 

Rz. 25

Unproblematisch sind in diesem Zusammenhang übrigens die Fälle, in denen die auflösende Bedingung bereits vor der Annahme des Vermächtnisses eintritt. Denn hier hat gerade keine Vermächtnisannahme stattgefunden, so dass nach wie vor der Weg zum vollen Pflichtteil frei ist.[95]

[87] Vgl. MüKo/Lange, § 2307 Rn 8 m.w.N.
[88] So jedenfalls OLG Oldenburg NJW 1991, 998; Staudinger/Haas [2006], § 2307 Rn 8; Soergel/Dieckmann, § 2307 Rn 2.
[89] J. Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler/Wälzholz, HB Pflichtteilsrecht (3. Auflage), § 4 Rn 31; vgl. hierzu auch Hölscher/Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, HB Pflichtteilsrecht, § 4 Rn 31.
[90] J. Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler/Wälzholz, HB Pflichtteilsrecht (3. Auflage), § 4 Rn 31.
[91] So auch OLG Karlsruhe Justiz 1962, 152; Schlitt, NJW 1992, 28, 29; Strecker, ZEV 1996, 327, 328.
[92] MüKo/Lange, § 2307 Rn 8; OLG Oldenburg NJW 1991, 988; ebenso Hölscher/Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler, HB Pflichtteilsrecht, § 4 Rn 31.
[93] Vgl. insoweit auch OLG Oldenburg NJW 1991, 988; Lange/Kuchinke, § 37 Fn 108; Soergel/Dieckmann, § 2307 Rn 2; Staudinger/Haas [2006], § 2307 Rn 6; MüKo/Lange, § 2307 Rn 8.
[94] Im Ergebnis ebenso Staudinger/Haas [2006], § 2307 Rn 23; Staudinger/Otte [2015], § 2307 Rn 19.
[95] Staudinger/Haas [2006], § 2307 Rn 23.

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