Verfahrensgang

OVG Rheinland-Pfalz (Aktenzeichen 8 A 12232/97)

 

Tenor

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. November 1999 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 DM festgesetzt.

 

Gründe

I.

Der Kläger ist Inhaber eines Baumschul- und Gärtnereibetriebes. Die beklagte Stadt genehmigte als Bauaufsichtsbehörde 1990/91 in der Nähe des klägerischen Grundstücks die Errichtung eines zweigeschossigen Hauses mit insgesamt 20 Wohnungen. Ein Bebauungsplan besteht nicht. Das Haus wurde gebaut. Im Jahre 1993 hob das Berufungsgericht die Baugenehmigung auf die Klage des Klägers wegen Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme auf. Die Entscheidung wurde rechtskräftig. Im Jahre 1994 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Bezugnahme auf die berufungsgerichtliche Entscheidung, gegen das Vorhaben durch Nutzungsuntersagung einzuschreiten. Die Beklagte erließ hinsichtlich zweier Wohnungen ein Nutzungsverbot, da diese auf den klägerischen Baumschulbetrieb ausgerichtet seien und ihre Nutzung einen Konflikt mit dem privilegierten landwirtschaftlichen Betrieb des Klägers befürchten lasse. Für die übrigen Wohnungen gelte dies jedoch nicht.

Der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Verpflichtungsklage des Klägers, mit der eine weitergehende Nutzungsuntersagung erstrebt wurde, gab das Verwaltungsgericht statt. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten hatte im wesentlichen Erfolg. Das Berufungsgericht verpflichtete die Beklagte, die Nutzung bestimmter Räume als Schlafzimmer/Kinder(schlaf)zimmer in insgesamt fünf Wohnungen zu untersagen. Im übrigen wies es die Klage ab. Das Berufungsgericht war der Ansicht, bei einem Anspruch auf baupolizeiliches Einschreiten bedürfe es der Prüfung, durch welche Nutzung der jeweiligen Wohnung das Maß der Rücksichtnahme gegenüber dem Kläger verletzt werde. Diese Frage sei durch die frühere Entscheidung nicht bindend beantwortet.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Es sei zu klären, in welchem Maße sich die zugunsten des Nachbarn entschiedene Anfechtungsklage auf dessen Anspruch auf baupolizeiliches Einschreiten auswirke. In der Sache hält die Beschwerde die Auffassung des Berufungsgerichts für unzutreffend.

II.

Die Beschwerde ist unbegründet. Das Vorbringen der Beschwerde ergibt nicht, daß die allein geltend gemachten Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfüllt sind.

1. Die von der Beschwerde formulierten Fragen rechtfertigen keine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung. Den Fragen fehlt die für eine Zulassung erforderliche Klärungsbedürftigkeit.

Nicht jede Frage sachgerechter Auslegung und Anwendung einer revisiblen Vorschrift enthält gleichzeitig eine gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erst im Revisionsverfahren zu klärende Fragestellung. Nach der Zielsetzung des Revisionszulassungsrechts ist Voraussetzung vielmehr, daß der im Rechtsstreit vorhandene Problemgehalt aus Gründen der Einheit des Rechts einschließlich gebotener Rechtsfortentwicklung eine Klärung gerade durch eine höchstrichterliche Entscheidung verlangt. Das ist nach der ständigen Rechtsprechung aller Senate des Bundesverwaltungsgerichts dann nicht der Fall, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation und auf dieser Grundlage ohne weiteres beantworten läßt (z.B. BVerwG, Beschluß vom 28. Mai 1997 – BVerwG 4 B 91.97 – Buchholz 407.4 § 5 FStrG Nr. 10 = UPR 1997, 468 = NVwZ 1998, 172). So liegt es hier.

2. Das Berufungsgericht sieht die Ermächtigungsgrundlage für das beanspruchte behördliche Einschreiten in § 78 der Landesbauordnung für das Land Rheinland-Pfalz (LBauO). Die angeführte Vorschrift stellt es in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde, gegen einen baurechtswidrigen Zustand einzuschreiten. § 78 LBauO gehört dem irrevisiblen Landesrecht an (vgl. allg. BVerwG, Beschluß vom 24. Mai 1988 – BVerwG 4 B 93.88 – Buchholz 406.19 Naturschutz Nr. 80 = NVwZ 1988, 824; Beschluß vom 10. Dezember 1997 – BVerwG 4 B 204.97 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 148 = NVwZ 1998, 395). Insoweit können sich keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen, welche in dem erstrebten Revisionsverfahren zu beantworten wären (vgl. § 137 Abs. 1, § 173 VwGO, § 562 ZPO). Das gilt grundsätzlich auch für Fragen der Ermessensausübung, die sich gerade auf die landesrechtliche Ermächtigungsgrundlage beziehen. Revisibles Recht kann dagegen berührt sein, wenn im Rahmen der Ermessensentscheidung Gesichtspunkte revisiblen Rechts bestimmend waren oder hätten sein müssen.

2.1 So steht die Beachtung und Durchsetzung des materiellen Bauplanungsrechts im Rahmen landesrechtlich geregelter Verfahren grundsätzlich nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1985 – BVerwG 7 C 65.82BVerwGE 72, 300 ≪324≫). Dies hat Bedeutung auch für die Beantwortung der Frage, ob und gegebenenfalls in welchen Grenzen die zuständige Behörde ein den Erlaß einer Abrißverfügung oder Nutzungsuntersagung betreffendes Entscheidungsermessen besitzt, wenn es sich um die Wahrung der nach revisiblem Bundesrecht zu beurteilenden bauplanungsrechtlichen Zustände handelt (vgl. BVerwG, Beschluß vom 17. April 1998 – BVerwG 4 B 144.97 – UPR 1998, 355 = BauR 1999, 735; mit krit. Anm. Jäde UPR 1998, 326).

Das Berufungsgericht hat diese Auffassung – läßt man zunächst die Frage des Umfangs der materiellen Rechtskraft seines früheren Kassationsurteils außer Betracht – beachtet. Es hat nicht danach unterschieden, ob der Bauherr aufgrund einer später im gerichtlichen Verfahren aufgehobenen Baugenehmigung oder ohne eine solche gebaut hat. Diese Ansicht erweist sich für den klagenden Nachbarn im Sinne formeller Illegalität als günstig und wirft im Streitfall keine weiteren klärungsbedürftigen Fragen auf. Die erfolgreiche Nachbarklage, die sich gegen eine Baugenehmigung wendet, führt bei Erfolg in der Tat zur formellen Illegalität des Vorhabens (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Juni 1991 – BVerwG 4 C 52.89 – Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 234 = NVwZ 1992, 165). Das Berufungsgericht hat alsdann untersucht, in welcher Hinsicht der Kläger bauplanungsrechtlich in seinen Rechten verletzt sein könnte. Hierzu hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß nicht sämtliche auf das klägerische Betriebsgelände ausgerichteten Wohnungen, sondern nur eine bestimmte Nutzung einzelner Wohnungen das zugrunde gelegte Gebot der Rücksichtnahme verletze. Insoweit dies der Fall ist, hat das Berufungsgericht eine Ermessensreduzierung angenommen. Dies wirft Fragen revisiblen Rechts nicht auf (vgl. BVerwG, Beschluß vom 4. Oktober 1990 – BVerwG 4 B 44.90 – ≪nur in juris veröffentlicht≫). Die Ansicht des Berufungsgerichts führt dazu, daß das materielle Bauplanungsrecht mit dem bauordnungsrechtlichen Vollzugsinstrumentarium ohne inhaltliche Beschränkung durchgesetzt wird. Damit ist dem in § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2, § 137 Abs. 1 VwGO vorausgesetzten Interesse an einheitlicher Auslegung und Anwendung revisiblen Rechts Genüge getan. Ob das Berufungsgericht das materielle Bauplanungsrecht im Streitfall zutreffend ausgelegt und angewandt hat, bedarf keiner Erörterung. Die Beschwerde hat hierauf bezogene Zulassungsgründe nicht vorgetragen.

2.2 Für den Nachbarn, der durch eine rechtswidrige und im gerichtlichen Verfahren aufgehobene Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt wird, kann sich aus einer an Art. 14 Abs. 1 GG auszurichtenden Auslegung der landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage gegen die Bauaufsichtsbehörde ein Anspruch ergeben, daß diese eine Beseitigungsanordnung oder eine Nutzungsuntersagung erläßt (vgl. BVerwG, Beschluß vom 13. Juli 1994 – BVerwG 4 B 129.94 – Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 48 = NVwZ 1995, 272). Die Beschwerde sieht in dem Anspruch auf Folgenbeseitigung eine weitere das Ermessen der Behörde beschränkende Rechtsposition.

Damit ist im Sinne der von der Beschwerde begehrten grundsätzlichen Klärung wenig gewonnen. Sowohl Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG als auch der Anspruch auf Folgenbeseitigung zur Herstellung des status quo ante stehen unter dem Vorbehalt gesetzlicher Ausgestaltung. Das mag an dieser Stelle auf sich beruhen. Denn in jedem Falle geht eine ermessensreduzierende Wirkung des Art. 14 Abs. 1 GG und des Anspruchs auf Folgenbeseitigung nicht weiter als eine beeinträchtigte Rechtsposition gegeben ist. Das ist für den Anspruch auf Folgenbeseitigung hinreichend geklärt (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 1993 – BVerwG 4 C 24.91 – BVerwGE 94, 100 ≪119≫). Die Beschwerde geht hiervon übrigens selbst aus. Der Anspruch zielt als Sanktion auf die Beseitigung der entstandenen und fortdauernden rechtswidrigen Beeinträchtigung. Für Art. 14 Abs. 1 GG gilt nichts anderes. Das Berufungsgericht hat in tatsächlicher Hinsicht eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme nur in eingeschränkter Hinsicht angenommen.

2.3 Die Beschwerde meint, das Berufungsgericht sei über § 121 in Verbindung mit § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO daran gebunden, die uneingeschränkte Aufhebung der angegriffenen Baugenehmigung auch dem klägerischen Beseitigungsverlangen zugrunde zu legen. Sie sieht die grundsätzliche Frage in der näheren Klärung des Umfangs der materiellen Rechtskraft des Kassationsurteils. Die Streitsache gibt dazu nach dem Stand der vorhandenen Rechtsprechung keinen Anlaß.

Ist Streitgegenstand der Baunachbarklage die Behauptung, eine bauliche Anlage verletze den Kläger in nachbarschützenden Rechten, und wird die erteilte Baugenehmigung gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO rechtskräftig aufgehoben, hindert die materielle Rechtskraft die Behörde, dieselbe Baugenehmigung bei unveränderter Sach- und Rechtslage erneut zu erteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1992 – BVerwG 1 C 12.92 – BVerwGE 91, 256 ≪258≫). Dieses Verbot der Wiederholung wirft keine klärungsbedürftigen Fragen auf. Ob einzelne Begründungselemente in materieller Rechtskraft erwachsen können, läßt sich nicht allgemein festlegen. Für eine Bescheidungsklage nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO wird dies bejaht. Nach einer verbreiteten Auffassung nimmt auch die vom Kläger geltend gemachte Rechtsverletzung und die darauf antwortende gerichtliche Rechtswidrigkeitsfeststellung an der materiellen Rechtskraft im Sinne einer präjudiziellen Wirkung teil. Folgt man dieser Auffassung, so darf die im Erstprozeß unterlegene Behörde den obsiegenden Kläger nicht erneut in eine Prozeßsituation bringen, in der dieselben Sach- und Rechtsfragen zu beantworten sind. Die unterlegene Behörde hat zur Bewahrung des Rechtsfriedens die gegen sie ergangene gerichtliche Entscheidung loyal zu beachten (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1985 – BVerwG 6 C 22.84 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 18; Urteil vom 28. Juli 1989 – BVerwG 7 C 78.88 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 22).

Der von der Beschwerde hierzu erstrebten Vertiefung der Rechtsprechung zum Umfang der materiellen Rechtskraft in einem Revisionsverfahren bedarf es angesichts der Besonderheiten des Streitfalls jedoch nicht. Das Berufungsgericht legt seiner Auffassung einen Sachverhalt zugrunde, der eine Klärungsbedürftigkeit entfallen läßt. Das Berufungsgericht legt dar, daß die angegriffene Baugenehmigung als eine einheitlich erteilte im Falle einer gegebenen Rechtsverletzung auch nur insgesamt hätte aufgehoben werden können. Das Gericht verneint mithin in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Teilbarkeit der angegriffenen Baugenehmigung. Das Beschwerdegericht hat diese Auffassung seiner Beurteilung zugrunde zu legen. Nach den Gründen der mit der Zulassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung ist ferner davon auszugehen, daß das Berufungsgericht in materiellrechtlicher Hinsicht einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme lediglich für einzelne Bereiche des Vorhabens bejaht hat. Im Erstprozeß bestand im Hinblick auf die nach Ansicht des Berufungsgerichts mangelnde Teilbarkeit der Baugenehmigung folglich kein Anlaß, näher festzustellen, welche einzelnen „Nutzungsteile” das Gebot der Rücksichtnahme verletzten und welche nicht. Blieb dieser Umfang im Detail offen, so fehlt es in materiellrechtlicher Hinsicht an einem genauen gerichtlichen Ausspruch, mit dem sich die beklagte Behörde materiellrechtlich hätte in Widerspruch setzen können. Das mag aus der jetzigen Sicht des Klägers unerfreulich sein. Indes brauchte das Berufungsgericht im Erstprozeß für die Begründetheit der Klage bei fehlender Teilbarkeit der angegriffen Baugenehmigung nur festzustellen, daß die auf das klägerische Betriebsgelände ausgerichtete Wohnnutzung notwendigerweise den Immissionen des klägerischen Betriebs ausgesetzt sei. Bei dieser Sach- und Rechtslage war die Beklagte durch die materielle Rechtskraft nur gehindert, einen Anspruch auf behördliches Einschreiten mit der Erwägung abzulehnen, ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht gegeben. In dieser Weise hat sich die Beklagte nicht verhalten.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 14 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

 

Unterschriften

Gaentzsch, Berkemann, Jannasch

 

Fundstellen

Haufe-Index 566208

BauR 2000, 1318

ZfBR 2000, 490

BRS 2000, 894

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