Verfahrensgang

Hessischer VGH (Beschluss vom 29.07.2002; Aktenzeichen 8 UE 422/02)

 

Tenor

Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29. Juli 2002 – 8 UE 422/02 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs wird aufgehoben und die Sache an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde, ohne dass über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden zu werden braucht, nicht zur Entscheidung angenommen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer drei Viertel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich im Wesentlichen gegen einen Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, durch den der Antrag des Beschwerdeführers auf Beiordnung eines Rechtsanwalts in einem vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufungsverfahren abgelehnt wurde. Des Weiteren greift der Beschwerdeführer zwei Schreiben des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs sowie einen Beschluss des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen an, durch den die Annahme einer Grundrechtsklage des Beschwerdeführers abgelehnt wurde.

I.

1. Das im Ausgangsverfahren beklagte Land versagte dem Beschwerdeführer im Jahre 1991 die Anerkennung seines Ingenieurzeugnisses als Zugangsvoraussetzung für ein Studium der Rechtswissenschaft. Im Laufe des hiergegen angestrengten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erteilte das beklagte Land dem Beschwerdeführer im Jahre 2001 die begehrte allgemeine Hochschulzugangsberechtigung und nahm entgegenstehende Bescheide zurück. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin seine Klage um und beantragte festzustellen, dass die ablehnenden Bescheide rechtswidrig waren. Das Verwaltungsgericht wies diese Klage ab, da sie unzulässig sei.

Der Verwaltungsgerichtshof ließ die Berufung des Beschwerdeführers zu. Das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen an die Darlegung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses überspannt; die ernsthafte Absicht eines Amtshaftungsprozesses könne nicht ausgeschlossen werden. Nach der Zulassung der Berufung legte der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers sein Mandat nieder. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer, ihm für die Begründung der Berufung einen so genannten Notanwalt beizuordnen.

2. a) Der Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag ab. Zwar bestehe für die Berufungsbegründung Vertretungszwang durch einen Rechtsanwalt, und es sei auch davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nachgewiesen habe, dass er keinen zur Vertretung bereiten Rechtsanwalt habe finden können. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung erscheine aber aussichtslos. Aussichtslosigkeit liege vor, wenn ein günstiges Ergebnis auch bei anwaltlicher Vertretung ganz offenbar nicht erreicht werden könne. Wegen der querulatorischen Art und Weise des Vorbringens des Beschwerdeführers sei davon auszugehen, dass es einem beigeordneten Notanwalt nicht möglich sei, mit einem zumutbaren Aufwand die Voraussetzungen für eine sachgerechte Prozessführung herbeizuführen. Der Beschwerdeführer habe selbst ausgeführt, dass ein ihm beizuordnender Anwalt sich in seine Ausführungen, die derzeit ungefähr 10.000 Seiten umfassten, einarbeiten müsse.

b) Unter dem 19. Juni 2002 und dem 21. Juni 2002 richtete der Verwaltungsgerichtshof zwei Schreiben an den Beschwerdeführer, in denen er ihm mitteilte, dass vom Beschwerdeführer eingereichte Unterlagen an ihn zurückgesandt würden.

c) Mit Beschluss vom 20. Juni 2002 lehnte der Staatsgerichtshof die Annahme einer Grundrechtrechtsklage des Beschwerdeführers gegen die Verfassungsmäßigkeit von § 43 Abs. 1 Satz 2 und § 43 a des Hessischen Gesetzes über den Staatsgerichtshof (StGHG) ab, weil der Staatsgerichtshof eine parallele Grundrechtsklage mangels Antragsbefugnis zurückgewiesen habe.

3. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs sinngemäß die Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz.

4. Zur Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs hat die Hessische Staatskanzlei Stellung genommen. Sie hält die Verfassungsbeschwerde insoweit für zulässig und begründet.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers auf wirkungsvollen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 BVerfGG liegen insoweit vor. Der Verfassungsbeschwerde ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben, weil der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und begründet.

Im Übrigen sind, ohne dass über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden zu werden braucht, die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht erfüllt.

1. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs wirft keine Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht darf der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 41, 323 ≪326 f.≫; 42, 128 ≪130≫; 44, 302 ≪305≫; 52, 203 ≪207≫; 69, 381 ≪385≫).

2. Der Beschluss, mit dem der Verwaltungsgerichtshof die Beiordnung eines Notanwalts ablehnt, verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Dieser Beschluss hätte zur Folge, dass die Berufung des Beschwerdeführers mangels wirksamer Begründung als unzulässig zu verwerfen wäre (§ 67 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 124 a Abs. 3 Satz 1 und 5 VwGO i.d.F. des Gesetzes vom 1. November 1996 ≪BGBl I S. 1626≫, § 125 Abs. 2 Satz 1 VwGO).

b) Art. 19 Abs. 4 GG bestimmt in Bezug auf das gerichtliche Verfahren nicht eine bestimmte Verfahrensweise. Die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtsweges bleibt vielmehr der jeweiligen Prozessordnung überlassen. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 41, 323 ≪326 f.≫; 42, 128 ≪130≫; 44, 302 ≪305≫; 52, 203 ≪207≫; 69, 381 ≪385≫). Es ist ihnen verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 78, 88 ≪99≫; 96, 27 ≪39≫).

c) Der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung anhand dieses Maßstabes nicht stand. Insbesondere konnte sich der Verwaltungsgerichtshof nicht auf die nach § 173 Satz 1 VwGO anwendbare Vorschrift des § 78 b Abs. 1 ZPO stützen, wonach die Beiordnung abzulehnen ist, wenn die Rechtsverfolgung aussichtslos erscheint.

Mit der Begründung, die Rechtsverfolgung des Beschwerdeführers erscheine aussichtslos, setzt sich der Verwaltungsgerichtshof nämlich in einen unauflösbaren Widerspruch zu seinem vorangegangenen Beschluss, mit dem er die Berufung des Beschwerdeführers zugelassen hat. Wenn es Gründe gibt, die Berufung zuzulassen, kann es nicht aussichtslos sein, das Berufungsverfahren durchzuführen. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch nicht zum Ausdruck gebracht, dass er an der Begründung des die Berufung zulassenden Beschlusses nicht mehr festhalten will. Wenn der Verwaltungsgerichtshof zur Begründung ausführt, dass es für einen Anwalt sehr schwer sein dürfte, sich in den Prozessstoff einzuarbeiten, so greift er einen Umstand auf, der dazu geführt hat, dass ein Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts gestellt werden musste, begründet damit die Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung aber nicht. Auch auf die Auffassung des Beschwerdeführers, sein Anwalt müsse sich in seine Aufzeichnungen von ungefähr 10.000 Blatt einarbeiten, kann es dabei nicht ankommen. Jeder vernünftige Anwalt wird zunächst auf die vorliegenden gerichtlichen Entscheidungen, vor allem auf den die Berufung zulassenden Beschluss, zurückgreifen und sich im Übrigen im Wesentlichen auf die anwaltliche Begründung stützen, die erfolgreich zur Zulassung der Berufung geführt hat. Es ist anerkannt, dass es zur Begründung der verwaltungsgerichtlichen Berufung unter Umständen sogar ausreichen kann, allein auf die bereits im Zulassungsantrag enthaltene Begründung zu verweisen (vgl. BVerwGE 107, 117 ≪121≫).

3. Der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs ist aufzuheben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

4. Soweit die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, wird von einer Begründung abgesehen (§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

5. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Umfang des Beschlusstenors zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde überwiegend als begründet erwiesen hat (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG).

 

Unterschriften

Jaeger, Hömig, Bryde

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1267298

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