Verfahrensgang

LG Kiel (Beschluss vom 23.05.1990; Aktenzeichen 13 T 53/90)

AG Neumünster (Beschluss vom 26.04.1989; Aktenzeichen 14 M 925/89)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe wird abgelehnt.

Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Wohnungsdurchsuchung im Rahmen einer Zwangsvollstreckung.

1. Gegen den Beschwerdeführer wurde wegen einer Ordnungswidrigkeit durch bestandskräftig gewordenen Bescheid eine Geldbuße von 10 DM festgesetzt; ferner wurden ihm Kosten des Verfahrens in Höhe von 25 DM auferlegt. Der Beschwerdeführer beglich die Forderung auch nach Mahnung nicht. Ein Vollstreckungsversuch durch den Vollziehungsbeamten blieb erfolglos, weil der Beschwerdeführer diesem den Zutritt zu seiner Wohnung verwehrte.

Auf Antrag der Vollstreckungsbehörde gestattete das Amtsgericht daraufhin die Öffnung und Durchsuchung der Wohnung, der Geschäftsräume und der Behältnisse des Beschwerdeführers durch den Vollziehungsbeamten, soweit der Zweck der Zwangsvollstreckung dies erfordere. Der Beschwerdeführer wurde vor dem Erlaß des Beschlusses nicht angehört. Der Beschluß, der keine Begründung enthält, wurde ihm auch nicht zugestellt.

Der Vollziehungsbeamte unternahm nach Erlaß des Beschlusses einen erneuten Vollstreckungsversuch, bei dem der Beschwerdeführer nicht anwesend war. Er ließ dabei die Wohnung des Beschwerdeführers gewaltsam öffnen und pfändete eine Stereoanlage. In der Wohnung hinterließ er ein Vollstreckungsprotokoll. Die Stereoanlage wurde später wieder freigegeben, weil sie im Eigentum einer Freundin des Beschwerdeführers stand, die die Wohnung mitbewohnte.

2. Nachdem der Beschwerdeführer durch eine Akteneinsicht des von ihm beauftragten Rechtsanwalts Kenntnis von dem Durchsuchungsbeschluß erhalten hatte, legte er dagegen Beschwerde ein, die er auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stützte. Die Beschwerde wurde als Erinnerung gemäß § 766 ZPO behandelt und vom Amtsgericht mit der Begründung zurückgewiesen, ihr fehle das Rechtsschutzinteresse, da die Zwangsvollstreckung bereits beendet sei; gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer die beantragte Prozeßkostenhilfe mangels Aussicht auf Erfolg versagt.

Die vom Beschwerdeführer in der Sache eingelegte sofortige Beschwerde sowie seine Beschwerde gegen die Versagung der Prozeßkostenhilfe blieben beim Landgericht, das sich der Beurteilung des Amtsgerichts anschloß, ohne Erfolg.

3. Mit seiner gegen die gerichtlichen Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gerügt. Angesichts der geringen Höhe der Forderung sei der Durchsuchungsbeschluß unverhältnismäßig gewesen. Es hätte auch einer vorherigen Anhörung bedurft, weil wegen des geringen Betrages nicht ersichtlich sei, daß dadurch Gläubigerinteressen gefährdet worden wären. Die Beurteilung der Anrufung der Gerichte als unzulässig stelle eine Perfektionierung der Versagung des rechtlichen Gehörs dar, da der Betroffene zunächst von der belasteten Maßnahme nichts wisse, sie nach ihrem Vollzug aber nicht mehr anfechten könne.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Diese gelten nach Art. 8 des Gesetzes vom 2. August 1993 (BGBl I S. 1442) auch für die vor ihrem Inkrafttreten anhängig gewordenen Verfahren.

1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung mehr. Insbesondere sind die in erster Linie aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen zum gebotenen Rechtsschutz gegen die Gestattung einer Wohnungsdurchsuchung, wenn die Durchsuchung oder die Zwangsvollstreckung bereits beendet sind, mittlerweile geklärt.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluß vom 30. April 1997 (BVerfGE 96, 27 ff.) seine frühere Rechtsprechung, wonach Art. 19 Abs. 4 GG bei erledigten Grundrechtseingriffen in der Regel eine nachträgliche gerichtliche Prüfung durch die Fachgerichte nicht verlange (BVerfGE 49, 329 ff.), aufgegeben. Die von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Effektivität des Rechtsschutzes verbietet es den Rechtsmittelgerichten, ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel ineffektiv zu machen und für den Beschwerdeführer “leerlaufen” zu lassen. Hiervon muß sich das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall für ein nach der Prozeßordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht. Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben ansehen, wie ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Darüber hinaus ist ein Rechtsschutzinteresse aber auch in Fällen tiefgreifender – wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkender – Grundrechtseingriffe gegeben, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Grundrechtseingriffe dieser Art kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz – wie im Fall des Art. 13 Abs. 2 GG – vorbeugend dem Richter vorbehalten hat. Wohnungsdurchsuchungen gehören auch zu den Grundrechtseingriffen, die ihrer Natur nach häufig vor möglicher gerichtlicher Überprüfung schon wieder beendet sind.

Das Gesetz sieht gegen die Gestattung der Durchsuchung zum Zwecke der Zwangsvollstreckung Rechtsmittel vor. Die Zulässigkeit dieser Rechtsmittel ist von den Fachgerichten unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beurteilen. Die Rechtsmittel dürfen danach nicht allein deswegen, weil die Durchsuchung oder die Zwangsvollstreckung überhaupt vor der Befassung oder Entscheidung des Rechtsmittelgerichts bereits beendet worden ist, als unzulässig verworfen werden.

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist, auch wenn die Durchsuchung einer Wohnung generell als tiefgreifender Grundrechtseingriff anzusehen ist, nach den besonderen Umständen des vorliegenden Falles nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten angezeigt. Einer Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen bedarf es hier zur künftigen Beachtung der Anforderungen aus der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie durch die befaßten Gerichte nicht. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß sich die Gerichte den verfassungsrechtlichen Anforderungen verweigern wollten oder ihnen gegenüber gleichgültig waren (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫). Die Gerichte konnten vielmehr aufgrund der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 49, 329 ff.) davon ausgehen, daß die getroffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich unbedenklich waren. Anzeichen, daß sie den nunmehr entwickelten strengeren Anforderungen an den von ihnen zu gewährenden Rechtsschutz nicht nachkommen werden, bestehen nicht.

Auch das Genugtuungsinteresse des Beschwerdeführers erfordert die verfassungsgerichtliche Aufhebung der Entscheidungen nicht. Die Berechtigung seines Standpunkts kommt hinreichend durch den Bezug auf die inzwischen entwickelten Anforderungen an den (fachgerichtlichen) Rechtsschutz gegen vollzogene Durchsuchungsanordnungen und durch die aufgrund dieser Rechtslage getroffene Auslagenentscheidung zum Ausdruck. Die vermögenswerten Nachteile, die sich für den Beschwerdeführer aus dem Bestehenbleiben der angegriffenen Entscheidungen ergeben können, sind nicht sehr gewichtig und können jedenfalls nicht als existentielle Betroffenheit (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫) eingestuft werden.

Trotz der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde entspricht es allerdings der Billigkeit, die volle Erstattung der Auslagen des Beschwerdeführers anzuordnen, da er sich zu Recht auf verfassungsrechtliche Mängel der angegriffenen Entscheidungen berufen hat und im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde auch mit deren Annahme rechnen konnte (§ 34a Abs. 3 BVerfGG).

Werden danach dem Beschwerdeführer die vollen Auslagen erstattet, so bedarf es keiner gesonderten Bewilligung der beantragten Prozeßkostenhilfe mehr.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Vizepräsident Seidl ist wegen Ausscheidens aus dem Amt an der Unterschrift verhindert.

Grimm

Grimm, Hömig

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1276252

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