Verfahrensgang

LG Dortmund (Beschluss vom 07.05.1997; Aktenzeichen 9 T 526/97)

 

Tenor

  • Der Beschluß des Landgerichts Dortmund vom 7. Mai 1997 – 9 T 526/97 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Das Verfahren wird an das Landgericht zur Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zurückverwiesen.
  • Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem Räumungsurteil wegen Suizidgefahr.

  • Der jetzt 99 Jahre alte Beschwerdeführer wohnt seit 38 Jahren in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Vermieter kündigten das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Das Landgericht hielt die Kündigung – im Gegensatz zum Amtsgericht – für berechtigt und verurteilte den Beschwerdeführer zur Räumung. Am 20. Dezember 1996 hat dieser einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a der Zivilprozeßordnung – ZPO – gestellt und beantragt, die Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Er hat vorgetragen, er leide nach Ausspruch der Räumungsverpflichtung an schweren Depressionen; er habe bereits 7 kg abgenommen. Angesichts seines Alters könne er sich nicht mehr auf eine neue Umgebung und Wohnung einstellen. Wenn er die Wohnung wechseln müsse, werde er sich in einer anderen nicht mehr zurechtfinden, könne daher in einer neuen Wohnung seinen Haushalt nicht mehr selbst führen und werde damit letztlich seine Autonomie verlieren. Zum Beweis seiner Behauptungen hat er ein Gutachten eines Psychologen vom 15. Dezember 1996 und eine Bescheinigung einer Fachärztin vom 18. November 1996 vorgelegt. In beiden Schriftstücken wird festgestellt, daß der Beschwerdeführer seit dem Räumungsurteil deutlich depressiv und suizidgefährdet sei. Das Amtsgericht holte ein amtsärztliches Gutachten ein, wonach die Wahrnehmungs- und Anpassungsfunktionen des Beschwerdeführers altersentsprechend reduziert seien. Die erhaltenen Restfähigkeiten reichten nur in der vertrauten, bis ins Detail konstanten Umgebung zur Sicherstellung der vitalen Funktionen aus. Der Beschwerdeführer habe angesichts der Aussicht, seine Wohnung zu verlieren, mehrfach Selbstmordgedanken geäußert. Er spreche darüber sehr differenziert und sei auch in der Lage, eine solche Absicht umzusetzen. Bei einem Umzug sei Suizidalität glaubhaft und mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Das Amtsgericht stellte die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Landgerichts ein; es machte dem Beschwerdeführer zur Auflage, die laufende Nutzungsentschädigung pünktlich zu zahlen und die Hausordnung zu beachten. Das Landgericht hat mit Beschluß vom 7. Mai 1997 den angefochtenen Beschluß dahingehend abgeändert, daß dem Beschwerdeführer Vollstreckungsschutz bis zum 31. Oktober 1997 gewährt wird. Im übrigen wies es den Antrag auf Vollstreckungsschutz zurück. Die Bewilligung einer zeitlich uneingeschränkten Räumungsfrist sei nicht mehr interessengerecht, da es sich um die Vollstreckung eines rechtskräftigen Titels handele. Es sei für den Beschwerdeführer zumutbar, seine depressive Erkrankung ärztlich behandeln zu lassen und alles zu tun, um der derzeitigen Selbsttötungsgefahr zu begegnen.
  • Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung des Landgerichts. Er rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

    Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und den Klägern des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Kläger des Ausgangsverfahrens weisen darauf hin, daß sie die Wohnung für ihre jetzt 78jährige schwer krebskranke Mutter/Schwiegermutter benötigten, die sie pflegen wollten. Die bisher vierköpfige Familie sei auf alle Räume ihrer 160 qm großen Wohnung angewiesen. Sie brauchten auch ein Arbeitszimmer, um am Wochenende Abrechnungen und sonstige Schreibtischarbeiten für die internistische Praxis zu erledigen. Es gebe zwar noch ein 7,5 qm großes Bügelzimmer; es sei der Mutter aber nicht zumutbar, in diesem kleinen Raum zu leben.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Der Beschwerdeführer ist in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinip und aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.

  • Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, daß die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, daß die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahmen dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪219≫; Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats vom 1. Februar 1994, NJW 1994, S. 1272 f.; Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 2. Mai 1994, NJW 1994, S. 1719 f.). Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nur zu prüfen, ob das Vollstreckungsgericht das Verfassungsrecht und die Ausstrahlungswirkung der Grundrecht beachtet hat (BVerfG, a.a.O.).
  • Daran gemessen ist die angegriffene Entscheidung mit dem Grundrecht des Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) unvereinbar. Das Landgericht hat dieses Grundrecht zwar bei seiner Entscheidung berücksichtigt und es mit den Gläubigerinteressen abgewogen. Im Ergebnis hält diese Abwägung aber der verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat den mit seiner Entscheidung verbundenen Risiken für Leben, Gesundheit und Autonomie des Beschwerdeführers nicht hinreichend Rechnung getragen. Es hielt es für zumutbar, daß dieser seine depressive Erkrankung als Reaktion auf die Räumung ärztlich behandeln läßt und alles tut, um die derzeitige Selbsttötungsgefahr zu beseitigen. Die angegriffene Entscheidung hat nicht berücksichtigt, daß nach dem amtsärztlichen Gutachten die Wahrnehmungs- und Anpassungsfunktionen des Beschwerdeführers altersentsprechend reduziert sind und die erhaltenen Restfähigkeiten ihm nur in der vertrauten, bis ins Detail konstanten Umgebung noch ein eigenständiges Leben ermöglichen. Dies bedeutet, daß er angesichts seines hohen Alters nicht mehr in der Lage ist, sich auf einen Wohnungswechsel einzustellen, zumal er bereits 38 Jahre in dieser Wohnung lebt. Angesichts dieser Umstände besteht die konkrete Gefahr, daß der Beschwerdeführer in einer neuen Umgebung seine Autonomie verlieren und bald zum Pflegefall werden kann. Durch das amtsärztliche Gutachten ist auch belegt, daß der Beschwerdeführer im Falle einer Räumung konkret suizidgefährdet ist. Der Verweis des Landgerichts auf die Möglichkeit einer ärztlichen Behandlung des Beschwerdeführers konnte nicht von der Berücksichtigung der Suizidgefahr entbinden. Denn das Gericht hat nicht begründet, daß eine solche Behandlung die Gefahr auszuschließen geeignet war. Diese Erwägung des Landgerichts mag zwar im Regelfall zutreffen; aber sie gilt nicht ohne nähere Begründung für den vorliegenden Ausnahmefall, dessen Besonderheiten in dem hohen Alter des Beschwerdeführers und in dessen starker und langer Verwurzelung in Wohnung und Wohngegend liegen.

    Der Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und gegen Art. 2 Abs. 1 GG führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Bei der gegebenen Sachlage überwiegen die Interessen des Beschwerdeführers gegenüber denen der Kläger des Ausgangsverfahrens. Ihnen ist eher zuzumuten, in ihrer 160 qm großen Wohnung eine Lösung für die Pflege der kranken Mutter zu finden, zumal zwei Räume bisher nicht regelmäßig bewohnt werden.

  • Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
 

Unterschriften

Kühling, Jaeger, Steiner

 

Fundstellen

Haufe-Index 884292

NZM 1998, 21

IPuR 1998, 51

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