Entscheidungsstichwort (Thema)

Vollstreckung trotz drohender Selbstmordgefahr

 

Leitsatz (redaktionell)

Die gegen den Schuldner ohne Rücksicht auf eine bestehende Selbstmordgefahr durchgeführte Zwangsvollstreckung verstößt gegen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; sie ist deshalb zumindest zeitweilig einzustellen.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 2; ZPO § 765a

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld (Beschluss vom 03.01.1994; Aktenzeichen 3 T 1035/93)

AG Gütersloh (Beschluss vom 22.12.1993; Aktenzeichen 11 a K 66/91)

 

Tenor

Der Beschluß des Amtsgerichts Gütersloh vom 22. Dezember 1993 – 11a K 66/91 – und der Beschluß des Landgerichts Bielefeld vom 3. Januar 1994 – 3 T 1035/93 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Sie werden aufgehoben.

Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Landgerichts über den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 765a ZPO wird die Zwangsvollstreckung ausgesetzt.

Soweit der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung darüber hinausgeht, wird er abgelehnt.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei Beschlüsse, mit denen der Antrag auf Aussetzung einer Zwangsversteigerung trotz vorgetragener Suizidgefahr abgelehnt worden ist.

I.

  • Der Beschwerdeführer, Vater von vier Kindern im Alter von 10 bis 22 Jahren, war bis zum Jahr 1985 leitender Bankangestellter bei einer Volksbank. Er wurde entlassen, wohl weil er einem finanziell nicht gesicherten Unternehmen Kredite eingeräumt hatte. Fortan war er als freier Finanz- und Anlagenberater tätig. Die Volksbank hat gegen ihn Schadensersatzansprüche in Höhe von ungefähr 135.000 DM geltend gemacht und gerichtlich durchgesetzt. Desgleichen sind Ansprüche des Landes Nordrhein-Westfalen sowie der Deutschen Genossenschaftsbank in Höhe von ungefähr 12.000 DM rechtskräftig festgestellt worden. Wegen dieser Ansprüche soll in das Eigenheim des Beschwerdeführers eine Zwangsvollstreckung durchgeführt werden. Die Zwangsvollstreckung ist auf den 3. Februar 1994 festgelegt worden.
  • Der Beschwerdeführer hat einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO gestellt und beantragt, die Zwangsvollstrekkung auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Er hat vorgetragen, daß er seit seiner Entlassung bei der Volksbank an schweren Depressionen leide; das Zwangsvollstreckungsverfahren werde das Krankheitsbild erheblich verschlimmern. Der Beschwerdeführer hat zum Beweis seiner Behauptungen ein ärztliches Schreiben aus dem Jahre 1990 sowie die Bescheinigung eines Facharztes vom 20. Dezember 1993 vorgelegt. In dieser Bescheinigung ist in einem Satz festgestellt, daß bei dem Beschwerdeführer eine chronisch depressive Reaktion bestehe und die Zwangsversteigerung seines Hauses eine völlige Dekompensation auslösen würde. Der Beschwerdeführer hat gegenüber dem Gericht geltend gemacht, daß im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bei der Zwangsversteigerung bis auf weiteres nicht in sein Haus vollstreckt werden könne.
  • Das Amtsgericht hat den Antrag mit Beschluß vom 22. Dezember 1993 zurückgewiesen. Das Gericht sah es bei der Bewertung der vorgelegten Gutachten nicht als erwiesen an, daß die Zwangsvollstreckung zu einer Suizidgefahr beim Beschwerdeführer führen könnte. Es beruft sich auf Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Köln, derzufolge es für eine Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 765a ZPO nicht ausreiche, daß der Antragsteller das subjektive Gefühl dieser Gefahr habe, sondern objektive Gründe hinzutreten müßten. An einer entsprechenden Darlegung fehle es aber im vorliegenden Fall. Denn der im ärztlichen Befund verwendete Begriff der Dekompensation bedeute laut Wörterbuch für medizinische Fachausdrücke das Offenbarwerden einer latenten Organstörung durch Wegfall einer Ausgleichsfunktion.
  • Das Landgericht hat die Beschwerde des Beschwerdeführers mit Beschluß vom 3. Januar 1994 zurückgewiesen. Es hat sich den Gründen des Amtsgerichts angeschlossen und ergänzend ausgeführt, daß sich die Gefahr eines Suizids aus dem Vortrag des Beschwerdeführers nicht ergebe, auch wenn er sich insoweit auf eine ärztliche Aussage berufe. Denn es schienen Fehler bei der Wiedergabe der ärztlichen Stellungnahme nicht ausgeschlossen. Zudem könne der Beschwerdeführer der Eigengefährdung durch Suizidversuch jederzeit dadurch begegnen, daß er sich umgehend in stationäre psychiatrische Behandlung begebe.

II.

Die Ehefrau des Beschwerdeführers hat im Namen ihres Mannes eine Verfassungsbeschwerde gegen die genannten Beschlüsse eingelegt. Sie legt dar, daß ihr Mann wegen seines Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, Rechtsbehelfe gegen die angegriffenen Entscheidungen einzulegen. Sie behauptet, daß ihr Mann am 27. Dezember 1993 einen weiteren Selbstmordversuch unternommen habe. Sie beantragt wegen der akuten Lebensgefährdung, die Zwangsversteigerung für zunächst 6 Monate auszusetzen. Auf Nachfrage von seiten des Bundesverfassungsgerichts legte die Ehefrau des Beschwerdeführers einen “Nervenärztlichen Befundbericht zur Vorlage beim Gericht” vom 22. Januar 1994 vor, erstellt von dem behandelnden Psychiater des Beschwerdeführers. Der Arzt führt in seinem Bericht aus, daß der Beschwerdeführer anläßlich eines Besuchs, der mit seelischen Schwierigkeiten anläßlich der Zwangsversteigerung zusammengehangen habe, völlig hilflos gewirkt habe. Der Beschwerdeführer habe am 27. Dezember 1993 einen Selbsttötungsversuch unternommen. Derzeit würden dem Beschwerdeführer Antidepressiva verabreicht; zudem würden psychotherapeutische Gespräche durchgeführt. Wegen der Zwangsversteigerung sei mit einer weiteren Zuspitzung der bestehenden Depression zu rechnen; den Beschwerdeführer quälten Selbsttötungsgedanken. Es bestehe weiterhin Suizidgefahr. Eine stationäre Behandlung sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sinnvoll, da der Beschwerdeführer dann von der Familie und allen Außenkontakten abgeschnitten wäre. Solange die nachvollziehbaren Vorstellungen des Beschwerdeführers im Hinblick auf die gerechte Behandlung der Zwangsvollstreckung nicht erfüllt würden, seien die therapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung der schweren reaktiven Depression stark eingeschränkt; auf eine telefonische Nachfrage hin erklärte der Psychiater, dies bedeute nicht, daß eine Behandlung unter diesen Umständen ohne Erfolg bleiben müsse. Als Behandlungsdauer werden 6 – 8 Monate genannt. Die Ehefrau des Beschwerdeführers hat die Aussetzung der Zwangsvollstreckung für zunächst sechs Monate beantragt.

III.

Den Gegnern des Ausgangsverfahrens und dem Land Nordrhein-Westfalen ist am 25. Januar 1994 Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 28. Januar 1994, 12.00 Uhr, gegeben worden. Das Land Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. Im übrigen hat es, vertreten durch die Gerichtskasse Bielefeld, erklärt, daß es die einstweilige Einstellung des Verfahrens bewillige. Die Deutsche G.… Bank hat erklärt, daß ihre Forderung von der R.…-Volksbank abgelöst worden sei und diese die Versteigerung weiter betreibe; sie selbst sei nicht mehr Beteiligte des Versteigerungsverfahrens. Die R.…-Volksbank hat keine Stellungnahme abgegeben.

 

Entscheidungsgründe

B.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von dem Beschwerdeführer selbst, sondern von seiner Ehefrau eingelegt worden. Grundsätzlich ist eine Vertretung vor dem Bundesverfassungsgericht nur durch einen Anwalt oder einen Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule möglich (§ 22 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 4 BVerfGG kann jedoch auch eine andere Person als Beistand zugelassen werden. Eine solche Beiordnung muß subjektiv notwendig und objektiv sachdienlich sein. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Die Ehefrau des Beschwerdeführers hat dargelegt, daß ihr Ehemann auf Grund seiner psychischen Verfassung nicht in der Lage sei, seine rechtlichen Interessen in Zusammenhang mit der Zwangsversteigerung seines Hauses wahrzunehmen. Da die seelische Situation des Beschwerdeführers, wie sich aus dem beigelegten nervenärztlichen Befund ergibt, durch die drohende Zwangsversteigerung äußerst labil ist, scheint diese Darlegung glaubwürdig. Die vorgetragenen Umstände lassen es auch ausgeschlossen erscheinen, daß der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang einen Rechtsanwalt mit der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde beauftragt.

Angesichts des hier in Rede stehenden Rechtsgutes, nämlich des Lebens des Beschwerdeführers, scheint es dringend geboten, daß die Interessen des Beschwerdeführers durch eine andere Person wahrgenommen werden. Die Zulassung der Ehefrau als Beistand ist objektiv sachdienlich, da sie sowohl die Verfahren kennt, die zu der Zwangsversteigerung geführt haben, als auch mit der seelischen Verfassung des Beschwerdeführers vertraut ist, deren Beurteilung für die Verfassungsbeschwerde von wesentlicher Bedeutung ist. Die Ehefrau hat zwar keinen expliziten Antrag auf Zulassung als Beistand gestellt, doch ergibt sich dies aus ihren Ausführungen implizit. Sie war daher als Beistand zuzulassen.

Als Beistand konnte sie in zulässiger Weise für ihren Ehemann eine Verfassungsbeschwerde einlegen und einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung stellen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Beschwerdeführer ist in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt.

  • Nach den Grundsätzen von BVerfGE 52, 214 ≪219≫ verlangt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bei Entscheidungen nach § 765a ZPO in Fällen, in denen ein schwerwiegender Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu besorgen ist, eine besonders sorgfältige Nachprüfung des entsprechenden Vortrags; wiegen die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden Interessen des Schuldners ersichtlich schwerer als die Belange, deren Wahrung die staatliche Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, ist die Zwangsvollstreckung zumindest zeitweilig einzustellen (BVerfG, Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. August 1991 – 1 BvR 1040/91 –, NJW 1991, S. 3207).
  • Die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts und des Landgerichts sind mit den genannten Grundsätzen nicht vereinbar, weil sie auf einer unzulänglichen Aufklärung des Sachverhalts beruhen.

    Der Beschwerdeführer hat bereits dem Amtsgericht einen ärztlichen Befund vorgelegt, in dem das schwere depressive Leiden und die Gefahr einer Verschlimmerung im Falle der Zwangsvollstreckung attestiert worden sind. Dieser ärztliche Befund war zwar sehr knapp gefaßt. Dies bedeutete jedoch nicht, daß die Gerichte nicht bereits aus ihm hätten entnehmen können, daß die Gefahr für das Leben des Beschwerdeführers bei einer Zwangsvollstreckung bestand. Soweit sie Zweifel über den Inhalt des Attests hegten, war es angesichts des hier in Frage stehenden Rechtsgutes nicht ausreichend, diese mit Hilfe eines allgemeinen medizinischen Wörterbuchs zu zerstreuen, wie es das Amtsgericht versuchte. Der in dem Befund verwendete Begriff der Dekompensation, der sich auf einen seelischen Vorgang bezieht, kann nicht mit dem in dem herangezogenen Wörterbuch definierten identisch sein, da letzterer allein organische Veränderungen betrifft. Ein genaueres Eingehen auf den Vortrag des Beschwerdeführers, wie es hier geboten war, hätte das Landgericht zur Feststellung führen müssen, daß die Suizidgefährdung des Beschwerdeführers nicht nur einem subjektiven Gefühl entsprang, sondern sich bereits in einem ärztlich festgestellten Selbsttötungsversuch niedergeschlagen hat. Der Verweis des Landgerichts auf die Möglichkeit einer stationären Behandlung des Beschwerdeführers konnte nicht von der Berücksichtigung der Suizidgefahr entbinden. Denn das Gericht hat nicht begründet, daß eine solche Behandlung die Gefahr auszuschließen geeignet war.

    Sowohl das Amtsgericht wie auch das Landgericht haben daher bei ihren Entscheidungen die vorgetragene Gefahr für das Leben des Beschwerdeführers, die durch die Zwangsvollstreckung hervorgerufen werden könnte, nicht ausreichend gewürdigt und dadurch gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß bei sorgfältiger Aufklärung des Sachverhalts eine dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung zu treffen gewesen wäre.

III.

Da allein die Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse gemäß § 765a Abs. 4 ZPO noch nicht zu einer Einstellung der Zwangsvollstreckung führt, wird die Aussetzung der Zwangsvollstrekkung bis zum Erlaß einer rechtskräftigen Entscheidung angeordnet. Den Vollstreckungsgläubigern ist eine vorläufige Aussetzung der Vollstreckung bei der gegebenen Sachlage zumutbar.

Soweit der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung darüber hinausgeht, wird er abgelehnt, da mit der Aussetzung der Zwangsvollstreckung dem Beschwerdeführer hinreichender Schutz gewährt wird.

IV.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen erfolgt aus § 34a BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Herzog, Grimm, Dieterich

 

Fundstellen

NJW 1994, 1272

Rpfleger 1994, 427

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