Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: rechtzeitige Abholung einer niedergelegten Postsendung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend nicht benutzt, braucht für die Zeit seiner Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Der Staatsbürger muß damit rechnen können, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten wird.

2. Der Adressat einer niedergelegten Sendung vernachlässigt seine Sorgfaltspflichten nicht, wenn er sich am ersten Werktag nach Kenntnis der Niederlegung erst gegen Mittag und nicht schon bei Schalteröffnung um 8.00 Uhr zur Post begibt.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; StPO §§ 329, 44-45

 

Verfahrensgang

OLG München (Beschluss vom 20.02.1992; Aktenzeichen 2 Ws 158/91)

 

Tatbestand

A.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Annahme des Beschwerdegerichts, er habe die Hauptverhandlung über seine Berufung schuldhaft versäumt, so daß ihm Wiedereinsetzung nicht gewährt werden könne.

I.

Der Beschwerdeführer wurde im August 1990 vom Amtsgericht München wegen gemeinschaftlich begangener Gefangenenbefreiung in Tateinheit mit gemeinschaftlichem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60 DM verurteilt. Er legte Berufung ein, über die am Montag, den 12. November 1990, 9.00 Uhr, vor dem Landgericht verhandelt werden sollte. Die Ladungsverfügung wurde dem Beschwerdeführer unter dem 5. November 1990 im Wege der Niederlegung zugestellt. Am 10. November 1990, einem Samstag, kehrte der Beschwerdeführer nach einwöchiger Abwesenheit in seine Wohnung zurück und fand die Mitteilung über eine Niederlegung vor. Da das Postamt zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen war, holte er am Montag (12. November 1990) das zuzustellende Schriftstück ab, und zwar erst gegen Mittag. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers wegen seines unentschuldigten Ausbleibens in dem auf 9.00 Uhr anberaumten Termin bereits gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen.

Der Beschwerdeführer ließ fristgerecht Wiedereinsetzung beantragen und unter Vorlage von eidesstattlichen Versicherungen vortragen, er habe in der Zeit vom 3. bis 10. November 1990 bei einer Bekannten in Augsburg Renovierungsarbeiten vorgenommen. Er habe der Mitteilung über die Niederlegung nicht entnehmen können, daß ihm die Ladung zum Hauptverhandlungstermin zugestellt worden sei. Mit einer so kurzfristigen Terminierung des Gerichts habe er nicht gerechnet. Deshalb habe er am Montag ausgeschlafen und sich erst gegen Mittag zum Postamt begeben.

Das Landgericht verwarf das Wiedereinsetzungsgesuch als unzulässig. Der Vortrag des Beschwerdeführers schließe ein schuldhaftes Handeln, das der Wiedereinsetzung entgegenstehe, nicht aus. Der Beschwerdeführer habe vielmehr nach seinem eigenen Vorbringen die Hauptverhandlung schuldhaft versäumt, weil er sich nicht schnellstmöglich nach seiner Rückkehr vom Inhalt der niedergelegten Sendung Kenntnis verschafft habe. Er sei zu erhöhter Sorgfalt verpflichtet gewesen, weil die Mitteilung über die Niederlegung schon eine Woche in seinem Hausbriefkasten gelegen habe und er die Anberaumung seiner Berufung habe erwarten müssen. Der Beschwerdeführer habe es ferner versäumt, vor seiner Reise nach Augsburg Vorkehrungen für den Erhalt einer Ladung zu treffen.

Das Oberlandesgericht verwarf die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde als unbegründet. Es führte aus, der Beschwerdeführer habe bei rechtzeitiger Abholung der Terminsladung die Hauptverhandlung über seine Berufung noch wahrnehmen können, so daß er dieser schuldhaft ferngeblieben sei. Hätte der Beschwerdeführer um 8.00 Uhr des Terminstages beim Postamt München 45 vorgesprochen und die Ladungsverfügung abgeholt, wäre es ihm möglich gewesen, zu der auf 9.00 Uhr anberaumten Hauptverhandlung zu erscheinen. Daß er am Montag, dem 12. November 1990, ausgeschlafen und sich erst gegen Mittag zum Postamt begeben habe, lasse seine Terminsversäumung als verschuldet erscheinen.

II.

Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde läßt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügen.

Das Oberlandesgericht habe die Anforderungen an die ihm als Angeklagten obliegenden Sorgfaltspflichten überspannt. Er habe der Benachrichtigung über die Niederlegung nicht entnehmen können, worum es sich handele, und – wegen der Schließung des Postamtes ab Samstagmittag – dies bis Montag auch nicht in Erfahrung bringen können. Es habe für ihn keine Veranlassung bestanden, am Montag früh um 8.00 Uhr zur Post zu gehen. Dies wäre aber die einzige Möglichkeit gewesen, von dem Termin noch rechtzeitig zu erfahren.

Die Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts habe ferner zur Folge, daß die vorgeschriebene Ladungsfrist von einer Woche gemäß § 217 Abs. 1 StPO auf null verkürzt werde. Bei Abholung der Ladung um 8.OO Uhr früh hätte er keine Möglichkeit mehr gehabt, sich auf den unmittelbar bevorstehenden Termin vorzubereiten oder sich mit seinem Verteidiger zu besprechen.

III.

Die Bayerische Staatsministerin der Justiz hat von der Möglichkeit, sich zu der Verfassungsbeschwerde zu äußern, keinen Gebrauch gemacht.

 

Entscheidungsgründe

B.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet im Sinne von § 93b Abs. 2 BVerfGG.

I.

Der angegriffene Beschluß des Oberlandesgerichts München verletzt die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dient unmittelbar der Gewährleistung des verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzes. Deshalb dürfen bei der Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht überspannt werden. Der Zugang zum Gericht darf nicht in unzumutbarer, sachlich nicht gerechtfertigter Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 41, 332 ≪334≫; 69, 381 ≪385≫). Wer eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend nicht benutzt, braucht für die Zeit seiner Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Der Staatsbürger muß damit rechnen können, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten wird.

Das gilt allerdings nicht, wenn ihm ein anderes Verschulden zur Last gelegt werden kann, wenn er also z.B. die Abholung vernachlässigt hat (vgl. BVerfGE 25, 158 ≪166≫; 40, 42 ≪44≫). Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG schützen nicht denjenigen, der der Wahrnehmung seiner Rechte mit vermeidbarer Gleichgültigkeit gegenübersteht. Von einem Betroffenen kann verlangt werden, daß er selbst zumutbare Anstrengungen zum „Wegfall des Hindernisses” unternimmt, wenn er dazu Anlaß hat und in der Lage ist (vgl. BVerfGE 42, 120 ≪126≫). Ein „Wegfall des Hindernisses” kann danach allenfalls von dem Zeitpunkt an angenommen werden, zu dem die Unkenntnis, auf der die Säumnis beruht, behoben gewesen wäre, wenn der Betroffene sich in der ihm in der konkreten Fallgestaltung zumutbaren Weise zureichend um die Verfolgung seiner Interessen bemüht hätte.

2. Diesen Zeitpunkt sieht das Oberlandesgericht im vorliegenden Fall mit der Öffnungsstunde des Postamtes, bei dem die zuzustellende Ladungsverfügung niedergelegt ist, am ersten Werktag nach Kenntniserlangung von der Niederlegung als gegeben an.

Diese Auffassung wird dem vorstehend dargestellten Maßstab nicht gerecht.

Der Beschwerdeführer hat unwidersprochen vorgetragen, er habe der Mitteilung über die Niederlegung nicht entnehmen können, daß es sich um die Ladung zu dem unmittelbar bevorstehenden Hauptverhandlungstermin über seine Berufung gehandelt habe. Er habe mit einer Terminierung zu Anfang November auch nicht gerechnet, weil das angegriffene Urteil seinem Verteidiger erst am 17. Oktober zugestellt worden sei. Das Oberlandesgericht begründet nicht, welchen Anlaß der Beschwerdeführer in dieser Lage gehabt haben könnte, sich bereits um 8.00 Uhr des nächstfolgenden Werktags beim Postamt einzufinden und des Inhalts des niedergelegten Schriftstücks zu vergewissern. Ein solcher Anlaß ist auch nicht ersichtlich. Das Gericht lastet dem Beschwerdeführer als sorgfaltswidrig an, daß er sich erst gegen Mittag des nächsten Werktages zur Post begeben und das zugestellte Schreiben abgeholt habe. Damit verlangt das Gericht aber für die hier gegebene Fallgestaltung nicht veranlaßte und deshalb unzumutbare Anstrengungen zur Herbeiführung des „Wegfalls des Hindernisses”.

Ob die weitere Annahme des Oberlandesgerichts, die abwesenheitsbedingte Hinderung des Beschwerdeführers, den anstehenden Hauptverhandlungstermin wahrzunehmen, wäre durch eine denkbare Kenntniserlangung von der Ladung unmittelbar vor der Terminsstunde weggefallen, der Beschwerdeführer hätte in diesem Fall den Termin noch rechtzeitig wahrnehmen können und müssen, ebenfalls Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, kann offen bleiben.

3. Die angegriffene Entscheidung beruht darauf, daß das Gericht die Voraussetzungen zur Erlangung von Wiedereinsetzung überspannt hat. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Oberlandesgericht bei Berücksichtigung von Inhalt und Tragweite der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG anders entschieden hätte.

II.

Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG ist der angegriffene Beschluß aufzuheben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1993, 847

NVwZ 1993, 466

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